Igor Levit, der Mensch am Klavier

25. September 2021

UNAUFGEFORDERTE WERBUNG

©Felix Boede / Sony Classical

Auf der Startseite von Igor Levits Homepage steht nicht viel. Statt eines repräsentativ vermarktungsheischenden Auftritts, gespickt mit musikalischen Erfolgsstorys, schillernden Fotografien, hochgelobten CD-Anpreisungen und überzogenen Lobhudeleien, findet man dort nichts dergleichen, lediglich eine buntfarbene Klaviaturcollage, seinen Namen in fett hervorgehobenen Lettern und folgende drei Worte, die einem auf den ersten Blick so selbstverständlich erscheinen, dass man sie in ihrer tiefergehenden Bedeutung erst beim zweiten Lesen vollumfassend durchdringt.

 

Bürger - Europäer - Pianist

 

Die Reihenfolge scheint beabsichtigt, demonstriert doch der Mann am Klavier damit klar und deutlich, welche Attribute er sich in der Wichtigkeit zuschreibt.

 

Nimmt Igor Levit sich der Priorisierung zufolge wohl als Pianist nicht so ernst, stellt er sein Licht unter den Scheffel, weil er als Ausnahmetalent sich und anderen nichts mehr beweisen muss oder ist er einfach nur ein sehr bescheidener, unprätentiöser Bürger unter Bürgern, der um des Menschseins willen Pianist geworden ist?

 

Man kann es drehen und wenden, wie man will. Fakt ist: Der Bürger Igor Levit ist von dem Pianisten Igor Levit nicht zu entkoppeln, auch wenn dieser viel mehr sein will als nur der Mann am Klavier, der die Tasten drückt.

 

©Felix Boede / Sony Classical

Dass er tatsächlich nicht nur virtuos in die Tasten hauen kann, zeigt sein nahezu leidenschaftliches Engagement, das weit über seine musikalische Wirkkraft hinausgeht.

 

Als Pianist des Widerstands erhebt Igor Levit mit aller Regelmäßigkeit seine Stimme gegen Rassismus, Antisemitismus und gegen jedwede Art von menschenverachtender Hetze. Dies tut er im Netz, in den sozialen Medien, im Fernsehen und dort, wo sein aktivistischer Fußabdruck veränderungswirksame Spuren hinterlässt.

 

Somit spielt sich Levit nicht nur mit aller Regelmäßigkeit in die Herzen seines Publikums, sondern nutzt ganz nebenbei seinen künstlerischen Bekanntheitsgrad, um mit der Musik und weit über ihre Grenzen hinaus für ein solidarisches Miteinander und für mehr Mitmenschlichkeit zu kämpfen.

 

Mutig stellt er sich immer wieder in aller Öffentlichkeit unangenehmen Fragen und nimmt damit in Kauf, angefeindet und bedroht zu werden.

 

Doch das hält Levit nicht auf, weiterzumachen und vehement, unerbittlich und beinahe schon rastlos für den Erhalt einer menschenfreundlichen Gesellschaft einzustehen.

 

©Felix Boede / Sony Classical

Levits unsteter Geist, der seinem beruflichen Pensum immer mehrere Gedankensprünge und Ideen voraus ist, lässt sich auch in musikalischer Hinsicht nicht einfangen, bändigen oder gar kontrollieren.

 

Getrieben von einem unersättlichen Drang nach neuen Herausforderungen, lässt sich der Pianist deshalb auch in seiner Repertoirewahl nicht in die opportune Standardschublade pressen.

 

Anspruchsvolle Klangjuwelen, unentdecktes tonales Neuland, vielleicht sogar die anstrengenden, sperrigen Werke, die sonst keiner aus der klassichen Mottenkiste ausgräbt, müssen her. Unbedingt.

 

Der Mann will es wissen, auch wenn er im klassischen Musikbetrieb mit dieser Herangehensweise so ziemlich allein da steht und damit häufig nonkonform läuft.

 

Doch er ist voller Energie und Freude, sich als Künstler immer wieder neu zu definieren und auszuprobieren und über die Grenzen seiner musikalischen Komfortzone hinauszuschießen.

 

Wohl gerade aus diesem Grund überzeugt, begeistert und vereinnahmt Igor Levit sein Publikum und seine Strippenzieher hinter der Bühne.

 

So lässt er sich beispielsweise während des ersten Lockdowns nach unerträglicher Konzertabstinenz auch nicht davon abhalten, im Corona Jahr 2020 die Vexations des Komponisten Erik Satie 840 Mal in einer fortlaufenden Litanei zu wiederholen und diese innerhalb von 24 Stunden ohne nennenswerte Pausen durchzuspielen, per Livestream.

 

©Nicole Hacke

Auch damit setzt Levit ein Zeichen, um auf die prekäre Lage der Kunstschaffenden aufmerksam zu machen, ein stiller Schrei, ein sogenannter Weckruf für die Politiker, Kunst nicht auf das Abstellgleis der gesellschaftlichen Bedeutungslosigkeit zu verfrachten.

 

Danach hat er Blut geleckt und gibt weitere Konzerte in einen noch intimeren Rahmen, nämlich von zu Hause aus dem Wohnzimmer heraus - die sogenannten Hauskonzerte, die keine gute Aufnahmequalität haben, aber Wirkung zeigen und im Kosmos der klassischen Musikmenagerie eindrucksvoll nachhallen.

 

Levit geht unzählige Male über Wochen viral, die ganze Welt hört und sieht ihm bei seinen Hauskonzerten zu. Und dabei denkt der Ausnahmepianist nicht im Mindesten an einen cleveren Selbstvermarktungsschachzug.

 

Vielmehr geht es ihm bei seinen Hauskonzerten um die eigene Selbstbestimmtheit, um die Autonomie, Musik, von wo auch immer, zu jeder Zeit, ohne großen Aufwand mit einem eigens ausgewählten Repertoire zu praktizieren und die Welt daran teilhaben zu lassen.

 

©Nicole Hacke

Denn Levit ist ein Mensch, der gerne teilt, der das Schöne, das Einzigartige, was die Musik der Allgemeinheit gibt, nicht für sich allein beanspruchen will.

 

Nicht nur deshalb verdient es Igor Levit "Der Mensch am Klavier" genannt zu werden, sondern auch und ganz besonders, weil er für die fundamentalsten Gesellschaftswerte, für die Würde des Menschen und für dessen Unantastbarkeit kämpft, und zudem als Pianist mit einer tiefen Emotionalität seine musikalischen Interpretationen lebt und ihnen mit einer ungekünstelten Beseeltheit seinen persönlichen Stempel aufdrückt, dass einem regelmäßig Tränen der Ergriffenheit in die Augen schießen.


©CD-Cover Gestaltung Felix Boede / Sony Classical

Wer die Musik Beethovens liebt, kommt an der aktuellen Einspielung des Starpianisten Igor Levit, die just kurz vor dem ersten Corona-Lockdown entstand, nicht vorbei. Sämtliche Sonaten befinden sich auf neun CDs kompiliert. Ein einmaliges Klangwerk, dass Tiefe, Kraft und Entschlossenheit in einer sehr persönlichen musikalischen Interpretation vereint.

 

©Sony Classical / über Youtube zur Verfügung gestellt

Eine kleine musikalische Geschmacksprobe auf die außerordentliche musikalische Strahlkraft des Pianisten, der 2019 als bester Solist mit dem Opus Klassik ausgezeichnet wurde.


©Mat Hennek/DG / Universal Music

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