Ein Europakonzert mit Tiefgang: Kirill Petrenko und Elīna Garanča stimmen nachdenklich

05. Mai 2022

Rubrik Konzert

©Stephan Rabold / Berliner Philharmoniker

Aus einem Tanz in den Mai wird beim diesjährigen Europakonzert in der lettischen Hafenstadt Liepaja leider nichts. Viel zu Ernst ist der Anlass, für den die Berliner Philharmoniker unter der Leitung ihres Chefdirigenten Kirill Petrenko in der Great-Amber-Hall an diesem Abend aufspielen.

 

Stattdessen untermalt ein Repertoire aus musikalischer Wut und Trauer das nachdenklich stimmende Konzert, das ganz klar im Zeichen der Solidarität mit Odessa in der Ukraine steht.

 

Da helfen auch die halbwegs fröhlich stimmenden Volkslieder des Komponisten Luciano Berio im mittleren Programmteil nicht über den Verdruss und die lethargischen Momente hinweg, die dem Konzert ihre musikalisch-emotionale Temperatur auferlegen.

 

Und die ist übervoll mit hochköchelndem Schmerz, wie es nur die "Musica dolorosa" des Komponisten Peteris Vasks auszudrücken vermag.

 

Alle Facetten, die mit dem inneren Leid einhergehen, emotional ausufernde Schmerzen, dumpfe Resignation und farblose Hoffnungslosigkeit werden tonal bedient:

 

Vasks wusste, wie man Verzweiflung, Trauer und Depressionen zu orchestralem Leben erweckt. Fast schmerzt es einen selbst ganz innerlich allein vom bloßen Zuhören.

 

©Stephan Rabold / Berliner Philharmoniker

©Stephan Rabold / Berliner Philharmoniker

So durchlebt man mit den Instrumentalisten eine klagende Klangreise durch die mannigfaltigen Stadien des Schmerzes. Bedrohlich schrammende Kontrabässe, kreischende Streichereinsätze im Wechsel mit stöhnenden Glissandi. Mehr musikalische Expressivität geht kaum noch.

 

Verzerrte Hässlichkeit in einer absoluten Musiksprache vertont, so eindrücklich spannt sich der ernsthafte Abend in einem fort durch die bewusst gewählte grautrübe Tonalwelt.

 

Sehr viel erbaulicher wird es auch nicht mit der anschließenden Elegie von Valentyn Silvestrov.

 

Durchzogen von silberschlieriger Melancholie, nimmt man das Klagen, das Wehen und das Jammern in etwas stillerer, weniger auftrumpfender Spielart wahr.

 

Zurückgenommen und extrem in sich gekehrt erklingt die schleierhaft nebulöse Musik aus dem Nichts in das Irgendwo eines verkümmerten Lebens.

 

Nicht so überzeugend wie noch bei der "Musica dolorosa" wirkt die musikalische Interpretation starr und wenig klangfarblich nach.

 

©Stephan Rabold / Berliner Philharmoniker

©Stephan Rabold / Berliner Philharmoniker

Erst mit Elīna Garančas Auftritt dringt etwas mehr Sinnhaftigkeit und leuchtende Textur in die Einsilbigkeit der tristen Musik.

 

Der Strauß an kunterbunten Volksliedern, die interkontinental von den USA über Frankreich, Italien, Armenien bis hin nach Aserbaidschan reichen, spannen einen weitgefächert kulturellen Bogen, wirken interessant, zum Teil melodisch aber auch wenig eingängig.

 

Umso spannender ist das Erlebnis, die Mezzosopranistin Elīna Garanča ganz in ihrem vokalen Element agieren zu sehen, das Verve, expressive Leichtigkeit und erfrischenden Esprit miteinander vereint.

 

Angenehm kühl und von einer kristallklar leuchtenden Textur strahlt jeder Ton der lettischen Sängerin geradlinig in die hohen Register ab.

 

Elīna Garanča singt mit einer präzisen Schnörkellosigkeit, die verblüfft. Jeder Ton hat sein klar avisiertes Ziel, jede stimmliche Nuance schimmert akkurat und nahezu feinjustiert in die Atmosphäre.

 

Elastisch, biegsam und von einer drahtigen Koloraturbrillanz muten auch die temporeicheren Lieder an, in denen das fröhlich übersprudelnde Naturell der Opernsängerin mit energischer Dynamik an die Oberfläche dringt.

 

©Stephan Rabold / Berliner Philharmoniker

Mittlerweile pocht die anfänglich "Schmerzende Musik" nicht mehr so sehr in den Schläfen, den heilsamen Klängen der Elīna Garanča sei Dank.

 

Doch auch dieses folkloristische Liedintermezzo hat sein Ende.

 

Danach wird es mit Janáceks „Taras Bulba“ und "Andrijs Tod noch mal todernst. Selbst Kirill Petrenko wirkt in seiner mutigen Entschlossenheit, emotional alles in die so schwer verdaubare Musik hineinzulegen, steif und ungelenk, auch wenn die Töne scheinbar aus dem Taktstock zu fließen scheinen.

 

Energetisch und dennoch ein wenig angestrengt erlebe ich den orchestralen Strippenzieher nicht zu hundert Prozent im Flow mit der Musik. 

 

Vielleicht liegt es am Anlass, der viel zu ernst und viel zu erschütternd ist, als dass man es wagen könnte, sein Pathos wie ein verwundetes Herz auf der Zunge zu tragen.

 

Denn manchmal braucht es auch in der Musik eine gewisse Distanz, Neutralität und Contenance den Weltgeschehnissen gegenüber.

 

Wie wohl das Europakonzert im kommenden Jahr sein wird?


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