Wenn Stimmakrobatik und Vokalerotik miteinander konkurrieren und das Hohe C zum Aushängeschild eines Tenors wird

21. Juli 2022

Feuilleton

©Nicole Hacke / Operaversum

Kennen Sie das auch, diesen Fetisch nach der perfekten Stimme, einer Stimme, die schon fast nicht mehr menschlich klingt, weil sie frei von Ecken und Kanten so fein geschliffen ist, dass man sich auf ihrer glatt polierten Oberfläche immerzu spiegeln kann.

 

Von dieser narzisstischen Wunschvorstellung voreingenommen, schlägt natürlich ein Rohdiamant, der erst noch brillieren muss, ganz weit ab vom Feld der überzogenen Publikumserwartungen.

 

Ein ungemachter Opernsänger, ein absoluter Anfänger, der sich erst noch die Sängersporen verdienen muss, bevor er zu vokalen Höhenflügen aufbrechen kann, scheint in unserer schnell pulsierenden Zeit, in der alles gleich und sofort perfekt und fehlerfrei zu sein hat, total fehl am Platz.

 

Wo noch vor etlichen Jahrzehnten der Genuss am gesamtheitlichen Opernwerk Publikum und Kritiker verzückte, werden mittlerweile die überkritischen Stimmen der ebenso professionellen wie selbst ernannten Superexperten laut, dass nur die Vokalakrobaten wirklich virtuos singen können, die ihre Stimmtechnik vollends beherrschen und demnach tadellose Höchstleistungen stets abrufbar wie auf Knopfdruck jederzeit live vor Publikum auf der Bühne darbieten können.

 

Doch wer ergötzt sich heutzutage allein am reinen Schöngesang?

 

Was noch im Barockzeitalter während der Entstehungsgeschichte der ersten musiktheatralischen Aufführungen mehr dem Unterhaltungscharakter und dem Entertainment der oberen Klassenschichten diente, entwickelte spätestens mit Beethovens Verständnis für die Musik und ihrer Ausdrucksweise eine gänzliche andere Wirkkraft.

 

Seichte musikalische Untermalung, die lediglich als atmosphärisches, ausschmückendes Beiwerk eines gesellschaftlichen Tête-à-Tête in höheren Kreisen diente, hatte mit dem Durchbruch des Rock´n Roller der klassischen Musik ausgedient.

 

Beethoven schürfte mit seinen Kompositionen tiefer als jeder andere Tonpoet zuvor. Seine Musik schrie, war laut, rebellisch, aufbrausend, temperamentvoll, impulsiv, rahmensprengend, unangepasst und so schlicht wie ergreifend zutiefst emotional.

 

Der Ausdruck des menschlichen Seins und seiner Gefühle rückte somit musikalisch mehr und mehr in den Vordergrund und sollte entgegen dem damaligen Trend salonfähiger Diversion Musikgeschichte schreiben und ihre weitere höchst individuelle, persönliche, ja nahezu intime Entwicklung fortan in eben diese Bahnen lenken.

 

Umso verwunderlicher erscheint es da, dass der zunehmende Hype um die perfekte Stimme sich in einem vielleicht noch nie da gewesenen Ausmaß in immer höhere, weitere und schnellere orbitale Umlaufbahnen zu verselbstständigen scheint, bis dass das Universum zum Glück doch noch eine Endlichkeit erfährt.

 

 

©Nicole Hacke / Operaversum

Denn die menschliche Stimme hat ihre Limitationen, die künstliche Intelligenz, die wahrscheinlich schon längst an der perfekten Stimme herumlaboriert, ebenfalls.

 

Letztere kann nämlich keine menschlichen Emotionen hervorbringen und Erstere wird irgendwann glanzlos, wenn man ihre technische Leistungsfähigkeit auf Kosten der Gefühle bis über den Anschlag hinaus gängelt.

 

Die Stimmtechnik und die mathematische Absolutheit musikparametrischer Normen machen ihrer Daseinsberechtigung nämlich erst dann alle Ehre, wenn echte, aufrichtige Emotionen in ihr mitschwingen können.

 

Ohne sie bleibt die Musik ein erstarrter, eiskalter Fisch, den niemand mehr zum Leben erwecken kann. Und für was wäre dann die Musik überhaupt tauglich?

 

Warum also diese exzessive Sucht nach einer puristischen Gesangsakrobatik?

 

Weil es zwar überaus schön ist, wenn ein Künstler der singenden Zunft Gefühle wie Sahnebonbons über sein Publikum ausschütten kann. Doch wenn dabei die gesangstechnische Virtuosität komplett auf der Strecke bleibt, kann die zu extrem menschelnde Stimme wie ein Schuss nach hinten losgehen.

 

Dann nämlich wird es für den Zuhörer im Auditorium anstrengend, nervenaufreibend und im schlimmsten Fall ein vokales Desaster, bei dem man nicht anders kann, als sich vor theatralischer Affektiertheit die Ohren irgendwann einfach nur noch zuzuhalten.

 

Schreihälse, die sich um der Aufmerksamkeit Willen verausgabungsgeil ihrer sämtlichen Gefühle entledigen, ohne sich dabei diszipliniert auf einer tonal ästhetischen Frequenz einzufinden, will wirklich niemand hören.

 

©Nicole Hacke / Operaversum

Also braucht es sowohl eine ausgeklügelte Stimmakrobatik als auch den großzügigen, aber dennoch nicht übertriebenen Schuss Vokalerotik, der aus einem technisch ausgefeilten Vokalinstrument eine lebendige, vor Verve und Strahlkraft sprühende, menschlich gehaltvolle und charakteristisch einzigartige Stimme macht – wahrlich ein Hürdensprung, der nicht von jedem Sänger mühelos genommen wird.

 

Und noch viel brisanter wird es erst, wenn sich das tenorale Hohe C ankündigt, das wie ein Damoklesschwert drohend über einer gesamten Arie hängen kann, sich zu überirdischer Größe aufplustert und so gut wie jedem Tenor einen so gewaltigen Respekt einflößt, dass scheinbar alles mit diesem verflixten, noch nicht mal überdurchschnittlich ästhetisch klingenden Ton steht und fällt.

 

Während klassikaffine Musiklaien Gott sei Dank oft nur auf den Gesamteindruck einer Arie achten und eine gesangliche Leistung ebenfalls auf deren ganzheitliches Erscheinungsbild relativieren, läuft im Kopf eines Kritikers meistens ein völlig anderer Film ab.

 

Schlechte Phrasierungen, schiefe Töne, unausgewogene Registerverblendungen. Will man einen Sänger vokal in all seine Einzelteile zerlegen, ist dass wohl der aggressivste Weg, alles und einfach alle gesanglichen Indispositionen bis auf den letzten Ton auszuschlachten.

 

Übrig bleibt vom Sänger im schlimmsten Fall nicht viel mehr als eine zerschmetternde Kritik in den Feuilletons der renommierten Tageblätter.

 

Bedauerlich, vielleicht sogar unnötig, aber nach wie vor gelebte Praxis. Damit steigt so selbstverständlich wie das Amen in der Kirche auch der Druck auf das überdurchschnittlich hohe Leistungspensum, das einem Sänger der Gegenwart einfach mal so abverlangt wird.

 

Ein Leben für die Emotionen, ein Leben für den Schöngesang  - und noch dazu ein Hoch auf das dreigestrichene Hohe C.  Und das bitte sehr, bitte gleich.

 

©Nicole Hacke / Operaversum

Wozu bräuchte es ansonsten all die vorangegangenen Mühen, all das Streben nach perfekt sitzenden Tönen, den gekonnten Aufbau des Spannungsbogens, das Hinfiebern und Fokussieren auf den Höhepunkt, der sich irgendwann an einer Schlüsselstelle nun mal im Hohen C entlädt?

 

Läuft nämlich kurz vor der Klimax irgendetwas schief, weil der Sänger knapp bei Atem ist und somit das Hohe C noch auf wackeliger Luftsäule gestützt mit Mühe und Not hervorpressen kann, dann war es das mit dem „Happy End“.

 

Die Arie bricht wie ein Kartenhaus in sich zusammen, verliert ihre Pointe vielleicht auch gleich ganz ihren Sinn! Exitus der Stimmakrobatik. Vokalerotik adé! Ciao, ciao Belcantissimo!

 

Dabei lassen wir, wenn gerade die Stimme nicht den Ton angibt, doch allzu gerne unsere dramatischen Helden auf der Bühne sterben.

 

Fast schmachtend leiden wir dann mit Ihnen um die letzten ausgehauchten Atemzügen, aus denen sich das fatale Ende klar und deutlich abzeichnet.

 

Aber sterben dürfen unsere illusorischen Helden nur dann, wenn sie sich zuvor noch ordentlich die Seele, das Herz, den ganzen großen Weltschmerz und das überdimensionale Leiden mit dem Ton aller Töne brustschmetternd inbrünstig aus dem Leib gerissen haben.

 

„Der Todesschrei eines Kapauns“ Rossini mochte weder das tierische Gekreische noch das brustgesungen Hohe C der menschlichen Gattung. Am liebsten hätte er sich wohl dieses Tons auf der Tonleiter komplett entledigt.

 

©Nicole Hacke / Operaversum

Ob es den Tenören damit wohl ähnlich geht?

 

Fakt ist: Nicht immer hören wir, was wir glauben zu hören. Auch knapp unter dem Hohen C liegt ein Ton, der selbst bei Rezensenten oftmals als das Original durchgeht. Täuschend echt und täuschend ähnlich klingend. Was man nicht weiß, macht einen nicht heiß, so das Sprichwort.

 

Nur José Cura, der im Jahr 2000 bei einer Aufführung an der Mailänder Scala in der Rolle des Manrico knapp unter dem hohen C blieb, wurde dafür scharf kritisiert und sogar vom Publikum ausgebuht.

 

Wie kann man da bloß als Sängerdarsteller noch entspannt bleiben, geschweige denn unbekümmert schön singen, wenn der Druck auf dem Kessel des erwartungsvollen Publikums so explosiv hoch ist und das Hohe C einen Stellenwert einnimmt, den es eigentlich gar nicht wirklich verdient?

 

Vielleicht sollten wir uns einfach darauf einigen - Gesangsakrobatik, Vokalerotik und Hohes C Rittertum nicht so übertrieben in die Wagschale legend - dass jeder talentierte Sänger ein Geschenk ist, aber eben auch menschlich und insofern fehlbar.

 

Und vielleicht sollten wir es sogar viel mehr schätzen, wenn Interpreten den großen Drahtseilakt zwischen Gesangsakrobatik und Vokalerotik ausgezeichnet beherrschen.

 

©Nicole Hacke / Operaversum

Dann fallen wir hoffentlich auch nicht jedes Mal vom Glauben ab, wenn mal ein Ton daneben geht oder das überidealisierte Hohe C mal nicht so heroisch in den leistungsorientierten Kosmos der übersteigerten Erwartungen abstrahlt.

 

Denn mal ganz ehrlich. Eigentlich strahlt es doch meistens und oft genug in viele Auditorien dieser Welt ganz herrlich weltentrückt, beseelt und mit einer überaus stentoralen Kraft.

 

Und wenn es das tut, ist das Gefühl, es als etwas Besonderes zu erleben so, als bliebe die Zeit ganz plötzlich stehen und als hörte die Welt sich auf zu drehen.

 

Die Intensität der Einzigartigkeit ist doch etwas, von dem wir uns lange nähren können. Wir müssen nur verstehen, dass die menschliche Stimme nicht als selbstverständlich anzunehmen ist, sondern ein einziges, großes Wunder darstellt.

 

Ein Wunder, das meistens sehr viel Zeit braucht, um in voller Pracht zu erblühen!

 

 


©Nicole Hacke / Operaversum

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©Operaversum /Nicole Hacke

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©Till Kind / ZDF Dokumentation Die Oper - das knallharte Geschäft

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