ein musikalicher Rückblick auf das Jahr 2020

MUSIK-DETOX ODER DIE QUAL DER KONZERTANTEN ENTHALTSAMKEIT

27. März 2021

UNAUFGEFORDERTE WERBUNG

©Nicole Hacke / Operaversum

Normalerweise ist eine Detox-Kur etwas grundsätzlich Gutes, normalerweise lässt man sich auch ganz freiwillig auf sie ein. Man macht sie, fühlt sich irgendwie leichter, beschwingter und um einige Kilos unbeschwerter. Schwer sowieso nicht mehr. Eine Detoxkur ist per se gesund, entschlackt und lässt uns im Nachhinein vor Vitalität nur so strotzen. Normalerweise.

 

Nur das Jahr 2020 war irgendwie anders, der Zeitpunkt für eine Detox-Kur schlecht gewählt. Und doch mussten wir sie alle machen, ob wir wollten oder nicht.

 

Obgleich die Supermärkte mit leckeren Delikatessen lockten, die eigenen Kochkünste zur Hochform aufliefen und man seinen Winterspeck vom Januar über den Sommer bis nahezu in den Folgewinter mit sich schleppte, so litt doch die Seele ganz gravierend an Magersucht.

 

Alles wohl eine Folge der exzessiv praktizierten Detox-Kur, die in Form eines gesellschaftlichen Pflichtprogramms Einzug in die einengenden Wohnzimmer der Nation hielt.

 

Und so kam es, dass unzählbar viele musiksüchtige Seelen am langen Arm verhungernd, nicht die tonalen Nährstoffe erhielten, die ihre Gefühlswelt doch so sehr benötigte, damit der Jahresbedarf an Kulturerleben und Musikgenuss gedeckt werden konnte.

 

Wo war die Kultur, wo waren die Kulturschaffenden, wo war die Musik abgeblieben?

 

Die Zutatenliste, die man für seine eigens zusammengestellten Musikschmankerln im Jahr 2020 geschrieben hatte, konnte man auf jeden Fall zusammengeknüllt in die Tonne treten. Nichts von alledem war erhältlich. Den musikalischen Genüssen musste man wohl oder übel entsagen, denn so gut wie fast jedes geplante Konzert wurde abgesagt.

 

Die Detox-Kur hatte höchste Priorität. Nur dass sie sich zu einer albtraumhaften Hungerkur entwickelte, mit der weder Künstler noch Kunstliebhaber annähernd zurechtkommen sollten.

 

Musik-Detox oder die Qual der konzertanten Enthaltsamkeit! So oder so ähnlich hätte man einen Ratgeber mit weiteren sinnhaften Titeln: "Wie überstehe ich dieses Jahr nur ohne Musik?" Oder "Wie soll ich 12 Monate ohne Musik bloß überleben?" publizieren können, mal ganz abgesehen von dem berechtigten Zweifel, ob Musikentzug überhaupt gesund sein kann?

 

Ganz sicher hätten sich diese dezidierten Werke millionenfach verkauft, denn um von jetzt auf gleich musikenthaltsam werden zu können, braucht es schließlich einen wissenden und psychologisch fundierten Experten, der einem mit Rat und Tat zur Seite steht und gangbare Alternativen aufzeigt, damit sich das Risiko des Musikentzugs minimiert. Doch will man das überhaupt? Ohne Musik leben!

 

 

©Nicole Hacke / Operaversum

Und welche Alternativen hat man in petto, wenn sozialgesellschaftliches Miteinander im Konzert, auf einem Open-Air, im Museum oder anderswo grundsätzlich nicht mehr möglich ist? Und will man sich wirklich und wahrhaft in musikalischer Enthaltsamkeit üben?

 

Live-Streams und Video-on-Demand-Angebote scheinen aktuell der Schlüssel zum Musikerleben zu sein, der letzte rettende Anker. Virtuell, online verbunden, aber irgendwie dennoch nicht vollumfänglich und mit Körper, Geist und Seele dabei.

 

Vor der Flimmerkiste sitzend erlebt sich Musik anders, distanzierter, obgleich die vernetzte Nähe doch als eierlegende Wollmilchsau gepriesen wird.

 

Mein vielleicht eher niederschmetterndes Fazit dazu: 2020 war ein gelinde ausgedrückt schwieriges Jahr, ganz gleich ob mit oder ohne Konzert beziehungsweise digital oder live erlebt. Von beiden Varianten kann ich eigentlich nur ein mehr oder minder deprimierendes Lied singen:

 

So nahm mit den Montagskonzerten, den ersten Live-Stream-Episoden an der Bayerischen Staatsoper alles seinen Lauf.

 

Kostenfrei und auf Knopfdruck prompt abrufbar, erlebte ich Konzertgenuss auf Distanz und doch nah dran am Geschehen, wenn auch ganz offensichtlich nur am Bildschirm. Ein vollwertiger Ersatz für das Live-Event im Saal war es jedenfalls nicht. Aber immerhin besser als gar nichts.

 

Wie sagt man doch so schön. Besser den Spatz in der Hand als die Taube auf dem Dach.

 

Genauso empfand ich mein erstes konzertantes Online-Streaming. Ich hatte den Spatz, nicht aber die Taube ergattert.

 

Auch das Video-on-Demand-Angebot der Met Opera in New York riss mich vergleichsweise ebenso wenig vom Hocker, obgleich die Professionalität der Aufzeichnungen, die Auswahl der musikalischen Beiträge und die Latte der Crème de la Crème der Kunstschaffenden enorm hoch gesetzt war, so entlockte es mir gerade mal ein teilnahmsloses Lächeln.

 

Ein Resonanzboden braucht den Boden, damit Resonanz überhaupt erst entstehen kann. Somit braucht ein Künstler auf der Bühne sein Publikum, um über alle Maßen hinaus performen zu können. Umgekehrt gilt ein ähnliches Prinzip.

 

Glückstaumelnde, esktatische Freude, ein hüpfendes Herz und eine im 7. Himmel befindliche Seele lassen sich auf gar keinen Fall im eigenen Wohnzimmer erleben. Wo kämen wir denn da auch hin, wenn uns Musik sogar einen digitalen Höhenrausch der Gefühle bescherte und nicht etwa der leibhaftig agierende Künstler auf der Bühne.

 

Das wäre doch der Tod für die lebendige, von der Bühne bis weit ins Publikum tragende Kulturbranche.

 

 

©Nicole Hacke / Operaversum

Was also nun? Nun freute ich mich einige Wochen später ausnahmsweise auf ein Sendeformat des Amazon Prime Giganten, der eine Dokumentation über meinen Lieblingstenor Jonas Kaufmann ausstrahlte. Ach was, ich fieberte quasi förmlich darauf hin. "A star in private", so der sinnige Titel des vielversprechenden Unterhaltungsformats über einen Künstler von Weltformat.

 

Nun ja. Privat und gut. Unterhaltungswert hatte die einstündige Dokumentation ganz sicher, obgleich ich als eingefleischter Fan weder sonderlich überrascht, noch besonders beeindruckt über die Tiefe des Interviews und den geringfügigen Seltenheitswert der gestellten Fragen war.

 

Lieber wäre ich beim mediterranen Lunch auf der hauseigenen Terasse von Herrn Kaufmann zugegen gewesen, um mich lamentierend über die musiklose Zeit ausheulen zu dürfen. Dabei hätte ich dann die vielen italienischen Leckereien des selbst gekochten Festmahls als tröstlichen Musikersatz auf meinem gourmetverwöhnten Gaumen genussvoll zergehen lassen.

 

Ein nettes sommerliches Intermezzo sozusagen. Eine Illusion von einer heilen Welt an einem heilen, sonnendurchfluteten Ort, der zwar nicht in Italien lag, einem aber dennoch italienisches "Dolce fa niente" im Lockdown gegeißelten Deutschland vorgaukelte.

 

Es wäre das Trostpflaster unter den Trostpflastern gewesen, genau in dieser brutal gnadenlosen Zeit, die noch nie in der Weltgeschichte so musiklos, so tonlos und so unbeschrieben wie eine leere Partiturseite war. Und dabei schrie doch alles förmlich nach wohlklingenden Terzen, dynamischen Oktaven und orgasmisch hohen C´s.

 

Stattdessen verbrachte ich das maue Frühjahr und auch den voranschreitenden seichten Sommer fast ausschließlich vor dem quadratisch, praktisch und guten Flachbildschirm, um in vergangenen Erinnerungen an echte, greifbare Konzerterlebnisse zu schwelgen.

 

Ich musste meiner Fantasie und meinem Erinnerungsvermögen dabei ein wenig auf die Sprünge helfen, was nicht schwerfiel, was mir aber, weil es so einfach war, gerade umso mehr die Sehnsucht nach echter, gelebter Musik in Form von leisen Tränen in die Augen trieb.

 

Ach, es war einfach alles zum Heulen, zum Mäusemelken sowieso. Eine gänzlich verstimmte Zeit, in der kein Ton so richtig schmetternd und brillant in die Welt tragen wollte, bis dann doch, wie durch ein Wunder die Bayerische Staatsoper zu Ende des Sommers für einen Liederabend mit dem Tenorprinzen von Gnaden die Pforten ihrer erlauchten Hallen öffnete.

 

Mit gerade mal 500 Karten im freien Verkauf tendierte die Chance, überhaupt bei diesem elitären Ereignis dabei sein zu können, gegen null.

 

In der Lotterie den Jackpot zu knacken, schien mir irgendwie einfacher. Doch wenn du denkst, es geht nichts mehr, dann flattert dir eine Karte per Post ins Haus und du weißt, das du erstmalig ein VIP unter den Konzertgästen bist, dachte ich mir in naiver Vorfreude und wurde prompt meiner exklusiven Gedanken beraubt.

 

Angst, Einwände, Bedenken, das komplette Gedeck hatten nämlich viele besonders eingefleischte Kaufmann-Fans dazu getrieben, ihrem hochgepriesenen Kulturtempel tunlichst fern zu bleiben.

 

 

Somit erübrigte sich der Run auf die begehrten Karten, die man in diesem Fall unüblicherweise ausgesprochen einfach und ohne große Umwege erwarb.

 

©Nicole Hacke / Operaversum

Hatte ich erwartet, dass es schmerzlicher sei, in der Knospe zu verharren, als sich dem Risiko auszusetzen, einfach zu erblühen, auf die Gefahr hin, dass es eben eine echte Gefahr barg, so wurde ich tatsächlich eines Besseren belehrt.

 

Im 2. Rang saß ich somit mutterseelenallein in einer Sitzreihe bestehend aus sieben Stühlen und hätte, wenn es mir in den Sinn gekommen wäre, meinen Körper der Länge nach auf den weichen Polstern ausstrecken können.

 

Die gähnende Leere im kaum besuchten Auditorium stimmte mich traurig und stimmte mich auch nicht gerade frohgesinnt auf den konzertanten Abend ein.

 

Scheinbar ging es dem Solisten und seinem Klavierbegleiter nicht deutlich anders. Die Stimmung war trüb, geknickt und statt schöner holder Töne, vernahm ich matte, unmotiverte, obgleich technisch einwandfreie Klänge, die allerdings aus Schuberts "Schöner Müllerin" eine verblühende, dahinsichende Schönheit machten.

 

Es war ein Trauerspiel auf und jenseits der Bühne. Da gab es keine Resonanz, da schwang nichts mit, da schwappte weder von der Bühne noch vom Publikum irgendetwas über, nicht einmal ein klitzekleiner Funke von, ja... von was überhaupt?

 

Begeisterungsstürme blieben aus. Geklatscht wurde dennoch laut und ungehemmt kräftig, wohl aus der Verzweiflung heraus, die deprimierende Stimmung jubelnd übertünchen zu müssen. Und irgendwie musste man ja auch für die abstinenten 2500 Konzertbesucher mitklatschen.

 

Desillusioniert von diesem Abend zog ich leise von dannen, voller Hoffnung, dass mich das kommende Open-Air Konzert im Wiener Theater im Park zu altbewährter Normalität zurückführen würde.

 

Allein die Illusion, etwas Normalität verspüren zu dürfen, hätte mir schon gereicht. Und was soll ich sagen! Wien hat mir im letzten Jahr tatsächlich die Augen geöffnet für das, was kulturell geht und mit welchem Enthusiasmus Musik dort auch während einer Gesundheitskrise öffentlich gelebt und zelebriert werden kann.

 

Aufrichtige, überbordende Freude auf das Konzert, die Interpreten, sogar Dankbarkeit an einem Ort sein zu dürfen, der unter den restriktiven Regularien der Länderregierungen eigentlich tabu war, schälten sich unverhohlen aus dem aufgeregten Geschnatter der laut schwadronierenden Konzertbesucher heraus.

 

Ich will nicht sagen, es war das Konzert meines Lebens. Doch unter den gegebenen Umständen war es definitiv das beste Konzerterlebnis im coronagebeutelten Kulturjahr.

 

Und es war, nachdem ich noch einmal im Oktober 2020 in der Wiener Oper einer Aufführung beiwohnte, wohl das letzte Konzert seiner Art, unverwechselbar, einzigartig, voller Leichtigkeit und humorvoller Zwischentöne. Es ließ mich glatt vergessen, welche chaotische Zeit ich gerade durchlebte.

 

Was daraufhin folgte, Na, kann man sich das nicht denken?

 

 

©Nicole Hacke / Operaversum

Mehr und noch mehr Livestreams und Video-on-Demand-Angebote der großen Opernhäuser dieser Welt. Nichts gegen all die gut gemeinten Versuche, die Intentionen etwas Sinnbringendes auf die Beine außerhalb eines Auditoriums zu stellen.

 

Nur hilft es denn der Kulturbranche, sich abstinent und dennoch viral gegen die Krise zu behaupten? Werden wir auf lange Sicht Konzertgenuss in seiner ursprünglichen Form wiedererleben können?

 

Nun stecken wir im Jahr 2021 immer noch fest, dem erprobten Lockdown sei Dank. Und noch immer hat sich nicht abgezeichnet, ob, wann und wie wir Musik in naher Zukunft wieder erleben dürfen.

 

Wir wissen gar nichts Wir tappen im Dunkeln. Wir wissen noch nicht einmal, wann wir geimpft werden und ob die Impfung gegen das Coronavirus überhaupt immunisiert.

 

Auf welchen Säulen wird gesellschaftliches Leben zukunftsweisend stattfinden, wenn die Musik nicht bald wieder ihren wohlverdienten Platz in der Gesellschaft einnimmt?

 

Was sind wir Menschen ohne Kultur? Was bleibt von uns, wenn Kultur kein Thema mehr ist?

 

Es sind diese und viele andere Fragen, die mich umtreiben, die mich an der Richtigkeit der indoktrinierten Maßnahmen zweifeln lassen.

 

Wir brauchen Brot zum Leben! Dieser Fakt ist unumstritten. Doch was ist mit unseren Seelen? Formen sie uns nicht zu den Individuen, zu den Menschen, die wir sind? Und brauchen unsere Seelen gerade deshalb nicht auch dringend Nahrung - und zwar in Form von Musik und Kultur generell?

 

Wie kann ein Mensch überhaupt Mensch sein, wenn er tagtäglich nur funktioniert wie ein geöltes Uhrwerk?

Wo ist die Verbindung zwischen Muttersprache, Geschichte, Kultur, wenn genau an einer dieser Stellschrauben eine tragende Säule gekappt wird?

 

Eine Säule der Identität wohlgemerkt.

 

Ich weiß gerade nicht viel, aber so viel weiß ich zumindest. Meine seelischen Fettreserven erschöpfen sich langsam, aber sicher. Der Musikentzug tut mir nicht gut. Und dieses erdrückend lästige Detox-Programm kann mich langsam mal - ein für allemal.

 

Jetzt hoffe ich nur noch inständig auf den Impfstoff, der mir eine hohe Dosis Vitamin Dur verspricht und die damit einhergehende Seeleninmunität.

 

Und das bitte schnell, ganz, ganz schnell und bitte gänzlich ohne Nebenwirkungen!


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