Übst du noch oder spielst du schon?

ALS AUTODIDAKT DURCH´S MUSIKALISCHE LEBEN

23. November 2021

UNAUFGEFORDERTE WERBUNG

©Nicole Hacke / Operaversum

Noch während meine Finger über die Tasten des Akkordeons gleiten und nicht wissen, was sie da eigentlich tun, überlege ich angestrengt, wie es denn mein Vater geschafft hatte, sich nicht nur der weiß-schwarzen Tasten rechter Hand, sondern auch der vielen schwarzen, identisch aussehenden Knöpfe des linken Registers seiner Quetschkommode zu ermächtigen.

 

Ich weiß noch nicht einmal, ob es sich bei diesem Hohner Modell um ein diatonisches oder gar chromatisches Akkordeon handelt. 

 

Ob mein Vater das gleich zu Beginn seiner Akkordeonleidenschaft so genau durchholen konnte, sei dahingestellt, ist aber auch völlig irrelevant, denn er war Autodidakt und konnte dieses Instrument ohne musikalische Grundkenntnisse frei von irgendwelchen Notenzwängen spielen.

 

Aber wie?

 

Noch immer starre ich hoch konzentriert auf die Tastatur und schlage zumindest schon mal einen Akkord an. Das geht ganz gut, denn ich habe schließlich das Klavierspielen erlernt. Eine Melodie bekomme ich hin, die Tonleiter, ein paar weitere Akkordfolgen, na prima. Das klappt ja wie am Schnürchen.

 

©Nicole Hacke / Operaversum

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Nur die kleinen runden Knöpfe, die für das Anstimmen der Bassstimme verantwortlich sind, kann ich nicht bedienen. Wahllos probiere ich mal den einen, dann wieder den anderen Knopf aus, drücke mal hier und mal da im Wechsel spielerisch auf dem Knopfsalat herum und wünschte mir inständig, ich könnte den Diskant und den Bass irgendwie harmonisch zusammenführen.

 

Aber alles klingt nur nach einem chaotisch wirren, atonalen und komplett unstrukturierten Durcheinander, bei dem nichts, so rein gar nichts im harmonischen Fluss ist. Nach einer halben Stunde gebe ich resigniert auf.

 

Wie hat mein Vater sich dieses Instrument bloß bis zur Perfektion zu Eigen gemacht? Ja, was macht überhaupt das Könnertum eines Autodidakten aus und wie trainiert man sich Fähigkeiten bis zur Virtuosität an, ohne fremde Hilfe beanspruchen zu müssen?

 

©Nicole Hacke / Operaversum

Begeisterung, Motivation, Leidenschaft, Einfluss

Alles fängt mit einem Funken Begeisterung für eine Sache an - in meinem Fall war das schon immer die Musik. Springt er einmal über dieser klitzekleine Funken, ist die Leidenschaft entfacht und die Motivation haushoch.

 

Bei mir war diese Leidenschaft von Kleinauf das Singen, mit dem ich anfing und nie wieder aufhören sollte. Für mich war das Singen fast schon ein natürlicher Reflex. Da ich nie so gerne redete, meine Gefühle irgendwie schon immer besser durch das Singen ausdrücken und kanalisieren konnte, sang ich jeden Tag oft stundenlang und mit großer Leidenschaft vor mich hin.

 

Natürlich wurde in meiner Familie schon immer sehr viel musiziert. Mein Onkel spielte Akkordeon, Mandoline und Trompete. Mein Vater spielte Mundharmonika, Akkordeon und sang dazu und meine Patentante war eine enthusiastische Operngängerin, die nebenbei auch ganz passabel singen konnte und sämtliche Werke italienischer Komponisten den lieben langen Tag am Plattenspieler herauf und herunter dudelte.

 

©Nicole Hacke / Operaversum

Ich wurde demnach von allen Seiten in "Dolby Surround" Qualität beschallt. Und das färbte automatisch, ohne das ich es jemals erzwingen musste, einfach so auf mich ab.

 

Nie hinterfragte ich, warum ich sang, was ich sang und welchen Sinn das Musizieren und das Singen im Besonderen für mich ergeben sollte. Schließlich musizierten sie ja alle um mich herum. Für mich war die Musik und das häusliche Musizieren ein normativer Bestandteil meines jungen Lebens. Er war so normal wie das tägliche Kommunizieren mit Menschen. 

 

Durch diese frühkindlichen Einflüsse geprägt, war es nicht schwer, mich angstfrei in die Musik fallen zu lassen. Es war sogar unglaublich einfach mit Tönen herumzuexperimentieren und mich dabei als Teil einer musizierenden Gruppe zu fühlen, denn Musik machte Spaß, verbreitete immer gute Laune, schürte Glücksgefühle und setzte mir viele kreative Impulse.

 

©Nicole Hacke / Operaversum

©Nicole Hacke / Operaversum

Als ich nicht mehr aufhören wollte zu singen, beschloss mein Vater, mich im Alter von 5 Jahren in die musikalische Früherziehung zu stecken, um mein musikalisches Talent grundkenntnisreich ausbilden zu lassen.

 

Ich bekam mein erstes Instrument und lernte fortan nach Noten zu spielen, was mir nicht sonderlich gefiel, denn plötzlich bekam das, was mir so leicht und ungezwungen erschien, eine starre Struktur, innerhalb derer ich auf Form, Rhythmik, Melodik und dergleichen achten musste.

 

Die Musik, die leichte Muse, diese für mich so verspielt melodischen Tonalwelten bekamen einen klar definierten Rahmen mit Parametern, die ich brauchte, um ein Instrument professionell erlernen zu können.

 

Absolute Perfektion schien also der Schlüssel zur musikalischen Virtuosität zu sein.

 

Und so lernte ich einige Jahre ausdauernd nach Noten zu spielen. Auf der Blockflöte viel mir das sogar nach ein paar Jahren sehr leicht direkt vom Notenblatt ein mir völlig unbekanntes Stück aus dem Stegreif sauber und ohne große Patzer abzuspielen und es zeitgleich mit Ausdruck und Emotion zu unterfüttern.

 

©Nicole Hacke / Operaversum

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Später am Klavier jedoch hatte ich während meiner 6-jährigen Ausbildung enorme Schwierigkeiten, ein Stück nach Noten einzuüben, geschweige denn eine Sonate fließend nach Noten ad hoc vom Blatt abzuspielen.

 

Noten- und Bassschlüssel analog zu lesen und beide Hände fingermotorisch in fliessrhythmischen Einklang zu bringen, war ein ständiges, herausforderndes Unterfangen, so als ob ich eine Buchseite synchron auf Englisch und Deutsch zu einem inhaltlich logischen Ganzen hätte zusammenführen müssen.

 

Immer dann, wenn ich so lange nach Noten geübt hatte, dass ich das Stück auswendig spielen konnte, wurde es wieder leicht, fließend und spielerisch.

 

Ich visualisierte dann nur noch den Fluss meiner Fingerabfolgen, memorierte den Bewegungsrhythmus meiner Hände und brauchte die Noten nicht mehr, die mir immer eine Last und um ehrlich zu sein, eine echte Qual waren.

 

Erst dann, wenn ich ohne Noten spielen konnte, bereitete mir das Musizieren wieder unbändigen Spaß und absolut große Freude.

 

Mit dem Singen nach Noten war es noch viel ärger. Ich konnte nie eine Note vom Blatt absingen. Aber nach Gehör sang und singe ich noch immer so gut wie fast alles - problemlos!

 

©Nicole Hacke / Operaversum

Auch in den Chorgemeinschaften, denen ich angehörte, funktionierte das notenfreie Singen unbemerkt.

 

Aber wie kann man denn dann überhaupt richtig gut und professionell singen, wenn einem das Notenlesen so völlig abgeht? Ein Instrument erlernt sich doch auch erst durch das Erschließen der Harmonie- und Notenlehre?

 

Naja, nicht unbedingt. Es gibt sogar sehr viele "professionelle Musiker", die als Künstler berühmt geworden sind, ohne jemals eine einzige Note gelesen zu haben.

 

Es gibt tatsächlich einen anderen Weg zu musikalischem Könnertum, ohne das theoretisch große Ganze.

 

Talent, Gehörbildung, Furchtlosigkeit, Üben, Üben, Üben

©Nicole Hacke / Operaversum

©Nicole Hacke / Operaversum

Da ich als Kind schon so viel Musik gehört hatte - und noch dazu aus den unterschiedlichsten Genres, wurde mein Gehör von Anfang an stark auf Harmonien und Gesangsstile sensibilisiert und trainiert.

 

Ausgestattet mit einem natürlichen Talent, das mir sicherlich durch meine Familie und deren musikalische Ausprägung zuteil wurde, bin ich wohl durch zusätzliche, sehr viele Übungsstunden, die ich ambitioniert, diszipliniert, ausdauernd und furchtlos in Eigenregie absolviert hatte, zu einer passablen vokalen Expertise ganz ohne Noten gelangt.

 

Mein stark ausgeprägtes musikalisches Gehör, das natürlich immer mittrainiert wurde, tat sein Übriges dazu.

 

©Nicole Hacke / Operaversum

Die grenzen des Autodidakten

Doch um in der Königsdisziplin des Kunstgesanges punkten zu können, brauchte es plötzlich Anleitung von Außen.

 

Denn auch ein Autodidakt kommt irgendwann an seine natürlichen Grenzen, zumindest dann, wenn er sich für das klassisch lyrische oder dramatische Fach entscheidet.

 

Während ich knapp zwei Jahrzehntelang verschiedene Musikstile gesanglich ausprobiert hatte, mal mit Pop, Rock, Schlager der 20er und 30er Jahre sowie Gospel, Lieder und Operettenschnulzen herumexperimentierte, merkte ich, dass ich im klassischen Fach gesanglich an meine Grenzen stieß. Mir fehlte der Ambitus, mir fehlte für fast alle Repertoirestücke der Tonumfang beziehungsweise die Tonhöhe und eine grundlegend solide Atemtechnik.

 

Ich war begrenzt auf ein gewisses Repertoire. Und dabei wollte ich doch unbedingt auch mal eine Opernarie flüssig und perfekt intoniert in der dafür komponierten Tonart singen können.

 

©Nicole Hacke / Operaversum

Also beschloss ich endlich Gesangsstunden zu nehmen und das Singen ein für alle Mal von der Pike auf zu erlernen.

 

Total erstaunt, was es wirklich für den reinen Kunstgesang brauchte, stürzte ich mich voller Eifer in diese sehr körperlich fordernde Ausbildung, die mir rein technisch sehr viel Disziplin, Durchhaltevermögen und einen sehr, sehr langen Atem abverlangte.

 

Die Gesangstechnik war für die Brillanz und Schönheit meiner Stimme absolut ausschlaggebend. Ich war nach einem Jahr so weit gekommen, dass ich tatsächlich meine erste Arie, ein hohes C und sogar ein paar Töne jenseits des hohen C´s kristallklar produzieren konnte.

 

Ganz ehrlich, ohne professionelle Anleitung durch eine Gesangspädagogin, hätten mich meine autodidaktischen Fähigkeiten nicht mehr sehr weit gebracht.

 

warum das autodidaktische Lernen dennoch vorteilhaft ist

©Nicole Hacke / Operaversum

Und dennoch: Ich bin ein Mensch, der gerne ausschert, der nicht so gerne konform geht mit starren, unflexiblen und unveränderbaren Strukturen, der sich gerne immer wieder in neuen Bereichen ausprobiert und vor allen Dingen in der Musik die Freiheit des Mitgestaltens und der Grenzüberschreitung liebt.

 

Als Autodidakt habe ich es sehr leicht, einfach mit einem neuen Hobby, einer neuen Leidenschaft anzufangen. Ich muss nicht erst darauf warten, dass mir jemand zeigt, wie es geht.

 

Ohne Unterricht, ja tatsächlich erst völlig frei nach Schnauze fange ich an zu improvisieren, zu gestalten und mit einem unbändigen Willen mein Wissen zu erweitern, meine anfänglichen Defizite peu à peu auszumerzen - und das alles aus eigenem Antrieb, aus der Energie und Selbstmotivation heraus.

 

©Nicole Hacke / Operaversum

Der große Vorteil autodidaktischen Lernens ist zum einen die unkonventionelle, unbefangene, furchtlose und sehr unvoreingenommene Art, sich einem Thema anzunähern, zum anderen die Entschlossenheit, die Leidenschaft, die Besessenheit und die bedingungslose Selbstdisziplin aus eigener Kraft etwas so weit nach vorne zu treiben, im besten Fall bis hin zur Perfektion, dass ein Außenstehender am Ende nicht unterscheiden kann, ob ein Autodidakt oder ein Vollprofi am Werk war.

 

Es ist sicherlich richtig, dass eine professionelle Anleitung immer der solideste Weg ist, sicherlich auch der geradlinigste zum Ziel und für das 100-prozentige theoretische und praktische Durchdringen einer Materie höchstwahrscheinlich auch der allerbeste Weg.

 

Doch wen interessiert am Ende der Weg, wenn einzig und allein das Ergebnis ausschlaggebend ist?


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