stell dir vor, die oper macht auf und keiner geht hin

EIN KRITISCHER DISKURS ÜBER DIE VIRTUALISIERUNG DER OPERNBRANCHE

15. April 2021

UNAUFGEFORDERTE WERBUNG

©Nicole Hacke / Operaversum

Als ich vor zwei Tagen der ORF Talkshow "Stöckl lädt ein" lauschte und dabei gedanklich an einem Kommentar des Welttenors Jonas Kaufmann hängen blieb, blieb mir, Erkenntnis sei Dank, vor Schreck beinahe die Luft weg.

 

Je länger der aktuelle Lockdown anhält, je länger wir uns vom kulturellen Geschehen entwöhnen, desto wahrscheinlicher wird es, dass Konzertgänger ihren Kulturtempeln in coronafreier Zukunft fern bleiben.

 

Und zwar nicht, weil Sie keine Lust, keine Freude und keinen Drang verspüren, mal wieder Live im Auditorium eines Opernhauses zu sitzen, sondern aus dem einfachen Grund, weil sie nicht mehr daran gewöhnt sind, sich unbeschwert, angstfrei und ohne gesundheitliche Risiken unter Menschenmassen zu mischen.

 

Zudem führt eine schleichende Entwöhnung von einst kulturintensiven Aktivitäten unumgänglich irgendwann zu einer selbstverständlichen Gewöhnung, die für ein grundsätzlich neues Verständnis erlebter und gelebter Normalität sorgen wird.

 

Und derzeit gelebte Normalität bedeutet gemäß Status quo, aus einer Vielzahl digitaler Opernstreams wählen zu können: ob nun an der Met, der Wiener Staatsoper oder dem Bayerischen Nationaltheater.

 

Dabei kosten die Opernproduktionen, die in Starbesetzung inszeniert ihre treue Zuhörerschaft zuweilen auch mit Neuinszenierungen anlocken, so gut wie gar nichts. Viele Video-on-Demand-Offerten sind sogar völlig kostenfrei.

 

Bequem fläzt man sich dann zu Hause in Wohlfühlklamotten auf dem kuscheligen Sofa mit einem Gläschen Wein und einer erlesenen Käseauswahl zur Hand, war doch bis vor einem Jahr ein Opernerlebnis noch nie so gemütlich, günstig und stressfrei zu haben gewesen - dem digitalen Zeitalter sie Dank.

 

Oder ist das Ganze vielmehr ein großer Fluch? Wenn der Zweck die Mittel heiligt, dann ist das sicher schön und gut und auch ehrenwert, zumal der Musikentzug uns keine andere Wahl lässt, als Mittel zu finden, die den Fortbestand des Opernbetriebs und jedwede Form des kulturellen Erlebens sichert.

 

 

©Nicole Hacke / Operaversum

So zumindest hat der Probenalltag weiterhin seine Berechtigung, finden Proben, Generalproben und unter dem Aspekt der Anwesenheitspflicht "echte menschengemachte" Aufführungen überhaupt noch statt - gibt es Künstler und Kunstschaffende. Zwar nach wie vor nicht für das Publikum vor Ort, sondern für die Fernsehzuschauer vor den Bildschirmen. Besser als gar nichts, könnte man meinen.

 

Doch werden die digitalen Angebote nicht irgendwann das Erlebnis Bühne, das Erlebnis Oper, das Erlebnis Konzert, das Erlebnis Theater wegrationalisieren? Wird es nicht so sein wie mit vielen anderen Dingen, die man vor noch gar nicht allzu langer Zeit ganz selbstverständlich im öffentlichen sozialen Miteinander erleben konnte.

 

Ich sage nur: Partnersuche! Die nämlich findet mittlerweile auch nicht mehr in echt auf der Straße, im Café oder gar bei der Arbeit statt, sondern vermehrt ganz diskret und mit genügend Distanz in anonymisierten Onlineforen, auf Partnerbörsen und dergleichen.

 

Sicherlich ist dieses Beispiel ein schlecht gewählter Vergleich, zumal Musik von der Resonanz zwischen Publikum und Künstler lebt. Aber tun das Partner nicht etwa auch? Von einer verbindenden Ressonanz leben? Wie man es dreht und wendet, die Welt wird verstärkt mit rasender Geschwindigkeit viral um sich schlagen und sich dabei stetig virtueller vernetzten.

 

Und wir müssen zusehen, wie wir damit fertig werden. Ob wir uns ganz dieser offensichtlich unaufhaltsamen technologisierten Entwicklung hingeben oder uns die noch verbleibenden tragenden gesellschaftlichen Säulen zurückerobern, die Lebensqualität, geistige Bereicherung, pures reines Erleben, tief empfundenes Glück und zwischenmenschliches Miteinander versprechen und die Teil unserer Kultur, unserer Sprache und unserer Identität sind.

 

"Wir müssen verhindern, dass die Konzertsäle leer bleiben", so appellierte Herr Kaufmann eindringlich und mit ernsthafter Miene an die Talkrunde bei Frau Stöckl.

 

Und tatsächlich muss dieser Appell ernst genommen werden, denn wir dürfen keinesfalls aus dem Blick verlieren, dass es Menschen gibt, die so jung sind, dass sie noch nicht wissen können, was Kulturerleben, was Konzertbesuche bedeuten, schlicht und ergreifend, weil sie eben noch nie auf einem musikalischen Event waren.

 

 

©Nicole Hacke / Operaversum

Es wäre sogar äußerst fahrlässig, wenn eine Generation von jungen Menschen in eine Gesellschaft hineinwüchse, die nicht mehr wüsste, was Erleben, was Leben in all seinen Facetten bedeutete, zumal das wahre Leben einfach nicht digital ist, sondern analog in der Realität und in echt, greifbar, fühlbar und unmittelbar stattfindet und keine Maschinen oder digitalen Apps als Bindeglied im sozialgesellschaftlichen Miteinander benötigt.

 

Das Gleiche gilt für die Interaktion zwischen Mensch und Musik.

 

Es ist genau diese Interaktion, die alles zum Schwingen bringt, die alles lebendig macht, auch wenn uns die Digitalisierung vorgaukelt, dass virtueller Musikspaß sofort und ebenfalls in Echtzeit zu haben ist.

 

Kunst hingegen ist immer echt. Kunst lebt von der Interaktion. Kunst atmet durch den kreativen Austausch und das sozialkulturelle Miteinander der Menschen. Die Digitalisierung ist lediglich ein künstliches Produkt, das uns in vielen Bereichen das Leben technisch erleichtert und in diesem Rahmen bitte schön auch erleichtern soll.

 

Daher lässt es sich im Umkehrschluss auch kaum von der Hand weisen, dass sich ohne das Internet beispielsweise Ticketkäufe für begehrte Vorstellungen in renommierten Opernhäusern deutlich schwieriger gestalten würden, wären sie nicht mal eben nur einen schlappen Mausclick weit entfernt.

 

Auch gäbe es ohne die Online-Verfügbarkeit keine sofort abrufbare Programmvorschau für sämtliche Opernhäuser der Welt. Nein, der Opernliebhaber müsste stattdessen umständlicherweise immer noch auf die frisch gedruckte Broschüre warten, die per Post ins Haus geflattert käme, mal schneller, mal weniger schnell, je nachdem, wie flott der Postbote sich sputete.

 

Oder was würden wir tun, wenn all die Neuinszenierungen nicht per Online-Stream stattfänden, keine einzige Aufführung digital in die Welt trüge und wir däumchendrehend auf dem Trockenen sitzend sang und klanglos in unseren vier Wänden ausharren müssten? Wir würden wohl oder übel musikalisch verhungern - und zwar am überüberlangen Arm.

 

Genau so und nicht anders wäre es, gäbe es nicht diesen klitzekleinen Funken Hoffnung, der in virtueller Form immer gehäufter mit einem immer attraktiveren Streaming-Angebot daherkommt und dabei in die ganze Welt strahlt und streut - in Millionen von klassikbegeisterte Haushalte.

 

Man kann sich sträuben, winden und das Zeitalter der Digitalisierung verfluchen. Die Pros und Kontras reichen sich dennoch die Hände.

 

Sie balancieren sich vielleicht sogar so gut aus, dass eine harmonische Mischung aus präsentem Konzertalltag und virtuellem Musikerleben eine zukunftsweisende Mischform ergibt, die Massen perspektivisch ansprechen kann und passionierte Konzertbesucher milde stimmen wird.

 

Entscheidend ist doch nur, dass die Gewichtung zwischen virtuellem Konzerterleben und echtem Operngenuss wohl austariert bleibt.

 

 

©Nicole Hacke / Operaversum

Der Oper irgendwann in naher Zukunft kategorisch fern zu bleiben, ob einer hypothetischen Angst aufersessen oder aber aus rein digitaler Bequemlichkeit, ist jedenfalls eine ganz schlechte bis überhaupt keine Lösung, denn Musik erleben bedeutet das Leben mit allen Facetten und Mehrdimensionalitäten zu erfahren, die das Internet niemals reproduzieren kann und wird.

 

Stell dir vor, die Oper macht auf und keiner geht hin!

 

Es liegt am Ende allein in unserer Macht, ob wir den Schritt über die Schwelle unserer Angst wagen, unsere Bedenken abwerfen und in die hehren Hallen eines Opernhauses zurückkehren. Normalität im kulturellen Alltag wiedererlangen, so wie wir sie kannten, fußt in unserem Mut, den Faden wieder dort aufzunehmen, wo wir ihn vor mehr als einem Jahr verloren haben.

 

Auch wenn die Kulturbranche sich über die letzten Monate stark gewandelt hat und im digitalen Rausch der Zeit das echte Opernerlebnis verfremdet hat, so kann die Oper in ihrer unverfälschten Ursprünglichkeit nur weiter fortbestehen, wenn sie ein Ort des musikalisch-emotionalen Austauschs zwischen Publikum und Künstler bleibt.

 

Also stellen wir uns lieber vor, dass die Oper bald wieder aufmacht und wir uns alle darauf freuen, auf samtener Bestuhlung sitzend, den Klängen eines Orchesters zu lauschen...

 

...das wieder greifbar, nahbar und ganz dicht dran am Puls des musikalischen Geschehens ist - so wie wir!


Aufzeichnung: Stöckl lädt ein - ORF 2 über Youtube zur Verfügung gestellt

In der ORF 2 Talkrunde "Stöckl lädt ein" plaudert der Münchner Tenor Jonas Kaufmann nicht nur über seine längst überwundenen Stimmkrisen und dem teils ambivalenten Verhältnis zu seinem Vokalinstrument, sondern gewährt uns ebenfalls Einblicke in sein derzeitiges Leben während der Kulturkrise, neue Albumpläne inklusive.

 


Kommentare: 0