Überwältigende Messiaen-OPer in der Elbphilharmonie, transzendierender Hochgenuss in wahnsinnstoller Neuproduktion

07. Juni 2024

Rubrik Konzert

©Bernd Uhlig / Elbphilharmonie

Es ist wie ein dissonanter Traum mit kakofonischen Andeutungen, der sich, ob der Sucht nach harmoniesatten Klängen, in wogenden Wellen hin und her changierend zwischen Staccato-gewaltigem Kreischen, schabend--surrendem Geigenzupfen und chaotisch anmutendem Xylophon Ping-Pong bis ins Unerträgliche über Gehör und Geist ergießt - so zumindest erlebt sich der überwältigend konzertante Einstieg in Olivier Messiaens szenographisch aufgeführte Oper "Saint Francois d´Assisi" in der Elbphilharmonie.

 

Dabei rüttelt es einem so heftig an der Seele und scheppert in beklommen lautloser Angst, dass man befürchten muss, ein Stück Seelenheil im Verlauf des erdbebenreichen tonalen Gewaltaktes in sich zerbrechen zu sehen.

 

Von Nicole Hacke

 

Das 1983 uraufgeführte Werk, das vom Messiaen-Experten Kent Nagano an diesem Abend ein fulminantes Dirigat erfährt, ist schwerste Opernkost, kaum zu verdauen und womöglich nur im Zustand äußerster Verrücktheit ganze fünf Stunden lang zu ertragen.

 

Doch ich halte durch, obgleich der erste Akt kein leichter Einstieg ist. Liturgisch nahezu, mit viel zu vielen rezitativischen Motiven, Litaneien im besten Sinne, die man geduldig über sich ergehen lassen muss, wäre da nicht diese unglaublich balsamische Stimme des südafrikanischen Baritons Jacques Imbrailo, die sich einem warm, angenehm und sanft in fluiden Dosen in den Gehörgang träufelt.

 

Herrlich und eine wahrhafte Wohltat, mit der sich der elegante Bariton durch den teils wirr klingenden orchestralen Klangteppich manövriert. Nein, er mäandert mit beruhigend hypnotischer Nuancierung, die von tonal honiggoldener Brillanz durchzogen ist. Göttlich, wie es aus ihm herausklingt.

 

Und das aus überraschend luftigen Höhen, denn über dem Orchesterpodium schwebt der Franziskus-von-Assisi-Interpret auf einer für den Anlass speziell installierten Stegkonstruktion, die dem Klangerlebnis in der Elbphilharmonie neo-dimensionale Höhepunkte setzt.

 

©Bernd Uhlig / Elbphilharmonie

©Bernd Uhlig / Elbphilharmonie

©Bernd Uhlig / Elbphilharmonie

Aber auch das Thema der Oper ist höhepunktreif, durchlebt das Publikum die Geschichte des Wunderheilers Franziskus von Assisi, der als reicher Kaufmannssohn  seinen Wohlstand für das Wohl der Armen und für ein Leben in Demut hinter sich lässt.

 

Projiziert auf einem überdimensionierten LED-Ring, der thronend über der Stegkonstruktion hängt, flimmern kinematografische Bildsequenzen, die das Leben Assisis in einem gegenwärtigen Kontext verhaften.

 

Dabei geht es um Obdachlosigkeit, Seenotrettung, Umweltschutz und Hospizarbeit: Themen, die die Welt bewegen und dennoch tabuisiert in Schubladen versteckt immer wieder an den Rand des gesellschaftlichen Geschehens rutschen. 

 

Überhaupt rutscht man in seinem Sitz voller Spannung hin und her, so viel Show, so viel Bewegung und dynamische Interaktionen passieren abseits der Bühne. Das komplette Auditorium befindet sich an diesem Abend in einem Ausnahmezustand der Bewegtheit, physisch wie auch psychisch.

 

Elektrisiert bestaunt man den wandernden Engel im zweiten Akt, der als musizierende Gestalt in einer offenen raumfahrtähnlichen Kapsel anmutig in Richtung Konzertdecke entgleitet und paradiesische Töne von perlender Eleganz produziert.

 

Der Engel ist Anna Prohaska, die mit ihrem klaren, feingeschliffenen Sopran alle Register betörender Tonakrobatik zieht - ätherisch, balsamisch und überirdisch zugleich! Nicht ein einziger Ton, der das Herz verfehlt oder die Seele gar unberührt lässt. 

 

Fast verfällt man für Minuten in einen Trance-ähnlichen Zustand, transzendiert in andere Sphären, während Anna Prohaska mit verführerischen Klangfarben und einem seidenfeinen Timbre melodische Bilder von farbenreicher Schönheit malt.

 

©Bernd Uhlig / Elbphilharmonie

©Bernd Uhlig / Elbphilharmonie

Jetzt bin ich völlig dabei, wach und erschrecke mich plötzlich. Ein Aufschrei! Aber warum und von wo?

 

Unter all den Engeln, die wuselnd von Etage zu Etage wandern, mal in ihren Bewegungen einfrieren, um im Flow des Rhythmus aus ihrer Starre erwachend flugs in alle Himmelsrichtungen auszuscheren, befindet sich eine Akteurin, die scheinbar einem Ohnmachtsanfall erlegen, abrupt in zwei Konzertbesucher hineinstürzt.

 

Ob es an der Musik liegt oder aber an einer Unterzuckerung. Ein scheinbarer Schwächeanfall, dem auch ich langsam, aber sicher erliege, hat die junge Dame sprichwörtlich aus dem Latschen gehauen.

 

Nun liegt sie vorerst am Boden und wird von einer Kollegin versorgt, bevor man sie behutsam aus dem Saal geleitet.

 

Währenddessen schleppt sich die Musik durch einen rauschhaften Sog der Betäubung. Schwer, sehr schwer sinken meine Glieder in den bequemen Sessel, fast schon fühlt es sich bleiern vor Müdigkeit an. Wie lange dauert dieser narkotisierende Zauber wohl noch?

 

Nicht mehr allzu lange, denn erstaunt über den im Sechsten Tableau des 2. Aktes agogisch-melodischen Wechsel, taucht der Zuhörer in unvorhersehbare, nahezu "mahlerische" Klangpoesien ein.

 

Von der Natur inspiriert, durchziehen Vogelgezwitscher und naturgewaltige Klangbildnisse die mittlerweile imposant gewordene musikalische Schöpfung Messiaens, die alpensymphonische Süffigkeit und Harmonieopulenz an den Tag legt. 

 

Außerordentlich faszinierend und positiv überrascht, offenbart dieser abstrakte kompositorische Geniestreich mehr als nur eindimensionale Facetten. Es ist ein Steigerungsmoment multifacettierter Brillanz, der ein beeindruckendes Bouquet emotionaler Temperaturen hervorbringt, das sich einem in seiner Vielschichtigkeit absolut überwältigend überstülpt.

 

©Bernd Uhlig / Elbphilharmonie

©Bernd Uhlig / Elbphilharmonie

Machtlosigkeit überfällt mich, fesselt mich und kettet mich an meinen Sitz fest. Wir sind der Natur einfach nicht mächtig. Wir können sie nicht erobern, beherrschen oder gar bezwingen.  Wir sind ihr ausgeliefert, ausgesetzt,  genauso wie dem Tod, der seine eigenen Gesetze kennt.

 

Auf dem LED-Karussell, das sich nicht dreht und nie gedreht hat, steht plötzlich die Zeit still. Sehr still! Das Leben, gerade noch gelebt, rinnt durch die fragilen Hände wie feiner Staub.

 

Schmerzlich bohrend, schockierend und musikalisch schreiend, erleben wir das letzte Aufbäumen eines Menschenlebens, das schonungslos zwischen den Uhrwerken der verrinnenden Zeit zermahlen wird.

 

Mit Anna Prohaska, die hoch unter der Decke, in der letzten Etage des Auditoriums den Engel verkörpert, lockt die Ewigkeit mit einer Stimme, die wahrhaft die schönsten diesseitigen und jenseitigen vokalen Ergüsse produziert.

 

Ich kann es nicht lassen, meinen Blick einfach nicht von dieser Gestalt mit dieser einzigartigen Stimme abwenden. Gebannt und wie von einem Zauber gehalten, starre ich hochkonzentriert auf Anna Prohaska, während das LED-Rondell die Geschichte einer todkranken Mutter und ihrer besorgten Tochter im Hospiz filmisch abbildet.

 

Es ist auch meine Geschichte, das Hospiz kein fremder Ort für mich und die Trauer eine Bekannte, die mich vor Jahren fest im Würgegriff umklammert hielt.

 

Jetzt laufen mir die Tränen heiß über beide Wangen. Welch grässlich hässliche Musik, die dem Tod die Bühne bereitet. Aber genauso ist es, genauso kann sich  ein "Verschwinden-für-Immer" anfühlen.

 

©Bernd Uhlig / Elbphilharmonie

©Bernd Uhlig / Elbphilharmonie

Noch ein letztes Mal erklingt die Stimme des heiligen Franziskus, während Anna Prohaska ihn mit Milde und Sanftheit ins Paradies ruft. Dann legen seine müden Glieder sich nieder. Um ihn herum versammeln sich einer nach dem anderen die Glaubensbrüder, einer davon, Kartal Karagedik, ein großartiger Bariton, der zu höherem berufen scheint, fiel er mir schon einige Male an der Hamburgischen Staatsoper sehr positiv auf.

 

Sein warmer Bariton hat einen samtigen Schmelz, einzigartig beruhigend und gleichmäßig und aus tiefster Emotionalität herausströmend.

 

Ganz anders, als der Schlussakkord, der sich im Orchester mit schmetternder Wucht vom letzten Atemzug des Heiligen Franziskus aus dem Leben verabschiedet.

 

Noch einmal werde ich dieses Werk nicht hören wollen. Es hat mich zutiefst erschüttert, unangenehm berührt, mir beinahe die Luft abgedrückt und mir all meine Energie geraubt. Aber es hat mich auch zum Nachdenken gebracht - über das Menschsein, das was im Leben bedeutsam ist und was es überhaupt heißt, Mensch zu sein.

 

Und so wird die Musik Messiaens noch lange in mir nachhallen. Es wird mich nicht einfach loslassen, dieses profunde, überbordende Werk der Menschlichkeit, das ich nicht fassen kann, vielleicht in seiner Gänze auch gar nicht fassen will.

 

Halleluja! Was für ein Konzert!


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