Die Operette, das aschenputtel der klassischen Musik!

09. JANUAR 2020

UNAUFGEFORDERTE WERBUNG

© Gregor Hohenberg / Sony Classical

Die Wiener Operette. Leichter, seichter und oberflächlicher Abklatsch des Verismo. Eingefleischte, konservative Klassikliebhaber des dramatischen Fachs belächeln häufig das Genre der lockeren Unterhaltungsmusik, das so süffisant und wenig tiefgründig daher kommt.


In eine Zeit hinein gereift (die Ära der Operette reichte von Mitte des 19. Jahrhunderts bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts hinein), in der Krieg, Armut und große Klassenunterschiede in der Gesellschaft Europas dominierten, eroberte sich die leichte Muse im Nu ihr Publikum. Und das war selbstverständlich gierig nach Leben, Lust, Spaß, Ablenkung und guter Laune. Wie auch sonst hätte man die Schrecken des Alltags, die Sorgen um sein ungewisses Dasein und die Zukunftsängste in der unsicheren wirtschaftlichen und politischen Lage der späteren Weimarer Republik, sowie der darauffolgenden Nachkriegsjahre des Ersten und Zweiten Weltkrieges halbwegs unversehrt überstehen können?

 

Die Bevölkerung hatte nichts, außer ein bisschen heile Welt und Seelenfrieden aus den melodiösen, eingängigen Operettenschnulzen zu schöpfen. Wie Pilze schossen sowohl die populären Melodien des späten 19. Jahrhunderts als auch die Salonklassiker der goldenen 20er und 30er Jahre aus dem Boden und läuteten die Hochphase der frühen Unterhaltungsmusik ein. Die Zeit für saloppe Stimmung war überreif und keiner beklagte sich damals auch nur in anmaßender Weise über das leidige, mittlerweile unprätentiös gewordene Operettenfach.


Das Genre, dass so belebend, berauschend und frohgesinnt daher kam, wurde dazumal geliebt, denn es befreite die Gesellschaft, wenn auch nur für ein paar Stunden, von den Widrigkeiten des Alltags. Tanz, Gesang, Liebeleien, eine verstrickte, belustigende Handlung ohne Mord und Totschlag, entzückte das nach Glück und Seligkeit lechzende Publikum.

 

© Gregor Hohenberg / Sony Classical

Doch der Zeitgeist, der unsere aktuelle Epoche definiert, diktiert die Mode, mit der wir uneingeschränkt konform gehen. Und da scheint es logisch konsequent, dass die Operette heutzutage scheinbar nicht mehr zum guten Ton und zum Habitus eines kultivierten Musikgeschmacks gehört.


Daher fristet sie ungerechterweise auch ihr trauriges Dasein in zweitklassigen Konzerthäusern dieser Welt. Unpassend bis schlecht besetzte Rollen verpassen der verschmähten Musikgattung den tödlichen Dolchstoß. Und damit bereitet man ihr, so traurig, wie es ist, endgültig den Garaus, ohne eine faire Chance auf Wiederbelebung.

 

Jonas Kaufmann, der sich nie ausschließlich nur für den allgemeingültigen Geschmack seiner Klassik verrückten Opernpuristen instrumentalisieren lässt, beweist, ganz im Gegenteil, wieder einmal mehr, dass die Operette immer noch atmet. Nein, sie pulsiert vielmehr und das so heftig, ungestüm und elektrisierend, wie ein junges Pferd.

 
Daher verwundert es auch kaum, dass Jonas Kaufmann vom Publikum bereits mit euphorischem Applaus eingedeckt wird, bevor überhaupt sein erster Ton erklingt. Das ist ein eindeutiges Zeichen, und zwar ein ziemlich gutes. In der Philharmonie am Gasteig in München schlagen am 7. Januar die Herzen im Auditorium mit ehrlicher Zuneigung für das beschwingte Fach und ganz besonders für den Welttenor, der gekonnt vermittelt, wie Operette geht.

 
Ungezügelter Applaus nach jeder, einfach jeder überaus gelungenen Gesangsdarbietung durchdringt das moderne Konzerthaus bis auf den letzten Platz. 

 

Herr Kaufmann versteht es mit seiner Stimme zu flirten, zu kokettieren und dabei eine musikalische Lässigkeit an den Tag zu legen, die mit Charme und Witz prickelnde Champagnerlaune versprüht. Der Abend ist unterhaltsam, amüsant und extrem erheiternd. Auch meine Füße entwickeln plötzlich ein Eigenleben. Wenn ich jetzt nur tanzen könnte.

 

© Gregor Hohenberg / Sony Classical

Ich komme wirklich nicht umhin, von einem Sog aus Dreivierteltakten und überbordender Walzerseligkeit  in die berauschenden Operettentiefen mitgerissen  zu werden.

 

Es ist unbestreitbar! Wieder einmal beweist der Spitzentenor von Weltformat, wie künstlerisch anspruchsvoll und ästhetisch uneingeschränkt vollkommen die Unterhaltungsmusik auf eine unaufdringlich vereinnahmende Art doch ist und wie man ihr, wenn sie denn richtig interpretiert und gesanglich perfekt dargeboten wird, den letzten funkelnden Schliff verpassen kann, damit sie, wie der schönste aller tonalen Diamanten, erstrahlt.


Und da sage noch einer, die Operette sei tot. Nein, sie lebt, und wie! Dank Jonas Kaufmann!

 

Mit seiner eigenwilligen, wunderbar speziellen, erfrischenden Interpretation der Wiener Klassiker, erfährt dieses unvergleichlich schöne und faszinierende Fach endlich wieder ein Revival, dass zukünftig doch wohl auf noch mehr hoffen lässt, im besten Fall sogar wieder große Wellen schlägt. 

 

Es wäre auch so langsam an der Zeit!

 

  1. Der Jonas Kaufmann Bildband zeigt anschaulich das Wirken und Schaffen des Ausnahmetenors und ist ganz besonders für eingefleischte Fans ein Augenschmaus.

  2. Der populäre Pakt ist ein Sachbuch der Autorin und Professorin Ethel Matala de Mazza, das sich mit der Geschichte der Operette  in der modernen Gesellschaft zu Anfang des 20. Jahrhunderts auseinandersetzt und deren Anteil am Durchbruch der Moderne eingehend beleuchtet.

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