Peter Grimes aufrüttelnd Neuinszeniert an der Bayerischen Staatsoper

07. März 2022

UNAUFGEFORDERTE WERBUNG

©Wilfried Hösl / Bayerische Staatsoper

Wäre der Anlass nicht die Musik, so würde man dieser Tage wohl eher in Stille mit den Menschen empathisieren, die sich inmitten der aktuell wütenden kriegerischen Auseinandersetzungen befinden, anstatt einer beklemmend klaustrophobischen Neuinszenierung des britischen Opernepos Peter Grimes an der Bayerischen Staatsoper zu lauschen.

 

Und obgleich die Musik lediglich ein harmonischer Symbolträger für den Frieden sein kann, so ergreifend transportiert sie mit Beethovens „Ode an die Freude“ just vor Aufführungsbeginn die Verbundenheit der Welt, in der doch alle Menschen Brüder sein sollten.

 

Dem gegenüber steht scharf kontrastierend die Geschichte des ausgegrenzten Peter Grimes, der in einer kleinen isolierten Dorfgemeinschaft überhaupt nicht wie ein Bruder, geschweige denn wie ein Mensch unter Menschen behandelt wird, sondern erfahren muss, wie ungnädig, brutal, eiskalt und gleichgültig die Gesellschaft dem Einzelnen gegenüberstehen kann, ohne sich einer moralischen und ethischer Verantwortung verpflichtet zu fühlen.

 

©Wilfried Hösl / Bayerische Staatsoper

©Wilfried Hösl / Bayerische Staatsoper

Mit Stewart Skelton in der Hauptrolle des Peter Grimes und Rachel Willis Sørensen als Ellen Orford und einzige Verbündete des geächteten Fischers erlebt diese schockierend aufrüttelnde und extrem düstere Neuinszenierung einen beängstigend realitätsnahen Aggregatzustand menschlicher Bösartigkeit.

 

Bevor das Orchester mit dem Vorspiel einsetzt, beleben die ersten Darsteller das Bühnengeschehen mit stummer Bewegtheit.

 

Zuerst hört man nichts. Doch dann, ganz plötzlich vernimmt man ein leises, sehr fernes Rauschen des Windes, das nur von Möwengeschrei und brandenden Wellen durchbrochen wird.

 

Während sich die ersten Sonnenstrahlen des Tages ihren Weg durch ein Seitenfenster ins Innere eines Gerichtssaales bahnen, schraubt sich der Geräuschpegel des tobenden Meeres in bedrohliche Unermesslichkeit.

 

Es ist die Ruhe vor dem Sturm. Es ist der Beginn einer furchtbaren sozialgesellschaftlichen Katastrophe.

 

©Wilfried Hösl / Bayerische Staatsoper

©Wilfried Hösl / Bayerische Staatsoper

©Wilfried Hösl / Bayerische Staatsoper

Das Regiewerk von Stefan Herheim beginnt mit einer Gerichtsverhandlung, die letztendlich den Anstoß für ein Gerüchtsurteil über Peter Grimes gibt, das sich die Dorfbewohner im Verlauf des dreiaktigen Musikdramas bilden.

 

So folgt das auf der Bühne platzierte Tribunal einer Theater-im-Theater Logik, bei der sich die Inszenierung verdoppelt und die Geschehnisse aus der Beobachter- und Handlungsperspektive synchron zueinander verlaufen. Dadurch entsteht eine einzigartige Dynamik, aus der sich die emotionale Temperatur der Charaktere und die darauf begründeten Verhaltensmuster besonders stark herausschälen.

 

Grimes, der wie ein ungeheuerliches Phantom aus den bedrohlichen Naturkulissen des Meeres zu entspringen scheint, grobklotzig, tölpelhaft und unberechenbar jähzornig, findet sich in einer zu engstirnigen und einfältigen Welt fernab jeglicher "Lebensstürme" wider, von denen die Dorfbewohner nichts wissen wollen.

 

Im Zentrum des Gerichtssaales, der gleichermaßen auch als Kneipe und Veranstaltungsort fungiert, bleibt die Welt ein Mikrokosmos, einengend und erdrückend zugleich.


Und Peter Grimes, der ewig Getriebene, der permanent von der gewissenlosen Dorfmeute mit passiver Aggressivität umzingelt, bedrängt und solange psychisch gegängelt und gehetzt wird bis er nicht mehr kann, sieht im Tunnel der Ausweglosigkeit kein Licht und keine Hoffnung mehr.


Gequält kapituliert Grimes und setzt seinem Leben auf offener See ein jähes Ende.


©Wilfried Hösl / Bayerische Staatsoper

©Wilfried Hösl / Bayerische Staatsoper

Überdimensionierte Wellenkolosse aus Sperrholz, ein Schiffskiel so haushoch wie ein Wolkenkratzer, eine Unterwasserwelt mit erschreckend großen Raubfischen. 

 

Die Urgewalt des Meeres ist in Herheims Inszenierung omnipräsent und verkörpert die Mannigfaltigkeit depressiver Seelenzustände, von denen Peter Grimes geplagt wird.

 

Lichteffekte, Blitze, Hell- und Dunkelsequenzen im Wechselbad der emotional aufgeladenen Handlung potenzieren die Dramatik, treiben sie bis zum eskalierenden Höhepunkt und konturieren das Leben des Außenseiters Grimes im Schatten der eingeschworenen Gemeinschaft.

 

Herheim präzisiert und formt die dunkle Seite des Lebens mit dramaturgischem Fingerspitzengefühl, verleiht ihr einen charakteristischen Gesichtsausdruck und eine Dynamik, mit der sich der Spannungsbogen nahezu elektrisierend durch das gesamte Werk zieht.

 

Am Ende bleibt nichts, außer einer flackernden Kerze, die wie ein Mahnmal auf einem als Felsen stilisierten Stein dem Schicksal des Peter Grimes gedenkt.

 

©Wilfried Hösl / Bayerische Staatsoper

©Wilfried Hösl / Bayerische Staatsoper

In einem tonal surrealen Expressionismus verloren, traumwandeln die Sängerdarsteller in einem albtraumhaften  Vakuum.

 

Stuart Skelton, der als Peter Grimes schauspielerisch ganze Arbeit leistet, obgleich die vokalen Grenzen des Machbaren punktuell auch mal überschritten werden, singt sich mit martialischer Tenorgewalt in ausgewachsene Manien.

 

Rollenversiert überzeugt der Brite mit charakterstarker Schauspielkunst. Er kann den Wahnsinn, die emotionalen Ausbrüche, die Zerrissenheit und die inneren Kämpfe mit sich und der Welt so realistisch abbilden, dass man glaubt, nicht Stuart Skelton, sondern Peter Grimes ganz hautnah und unverfälscht in natura zu erleben, so als ob der Sängerdarsteller ganz und gar mit dieser schwierigen und recht sperrigen Charakterrolle verwachsen wäre.

 

So herausfordernd wie die Charakterrolle ist das Werk Brittens auch im vokalathletischen Sinn. Doch Skelton punktet mit seiner raumfüllenden Mittellage, seiner registertiefen Substanz und den metallisch brillanten Tonalhöhen, die mit absoluter Durchschlagskraft agil und biegsam in das Auditorium tragen.

 

©Wilfried Hösl / Bayerische Staatsoper

An seiner Seite überzeugt auf ganzer Linie ebenfalls die verwitwete Lehrerin Ellen Orford, alias Rachel Willis-Sørensen.

 

Mit ihrem samtweichen Klangschmelz, den ausgezeichnet verblendeten Registerwechseln und einer vokalen Anmut, die leicht und zart bis in die exponiertesten Tonalsphären dringt, verzaubert Willis-Sørensen und entführt den Zuhörer in eine traumverlorene Welt, die weder Vergangenheit noch Zukunft kennt, sondern einzig und allein im Jetzt existiert.


Edward Gardner, der sich am Taktstock in die wuchtige, unberechenbare Welt der tonalen Naturgewalten begibt, zügelt und zähmt die Musik dort, wo sie sich nicht im expressiven Chaos verlieren soll.

 

Ausufernde dramatische Ausbrüche sind an den rechten Stellen der Partitur gewollt und treten ganz besonders in den Zwischenspielen vordergründig in Erscheinung. Die tobenden Wellen, das brausende Meer: Gardner zeichnet mit seinem Taktstock Bilder aus überschäumenden haushohen Wellen, die sich krachend in der Brandung brechen.

 

Eine musikdramaturgische Geschichte geht zu Ende. Sanft verklingen die letzten Töne des Orchesters, der Chorgesang verschwimmt lamentierend in den Untiefen des Meeres.

 

Brittens Meisterwerk - ein musikalisches Manifest einer politischen Epoche voller menschlicher Verfehlungen, kriegerischer Auseinandersetzungen und Verwüstungen?

 

Oder doch vielmehr ein musikalisches Mahnmal für die so gegenwärtige Zukunft?


©Trailer Bayerische Staatsoper / über youtube zur Verfügung gestellt

Eine kleine Geschmacksprobe von Brittens Meisterwerk "Peter Grimes" bietet der Trailer der Bayerischen Staatsoper. Kurz und abstrahierend wird ein Rundumriss in musikalischer, szenischer und handlungsweisender Manier gemacht. Eine gelungene Zusammenfassung eines außerordentlich vielschichtigen und psychogrammatischen Meisterwerks.


©Screenshot Livestream Bayerische Staatsoper

Rachel Willis-Sørensen spricht im Pauseninterview am Premierenabend des 06. März 2022 mit Maximilian Maier über die Rolle der Ellen Orford.

 

Maximilian Maier: Warum liebt Ellen Orford Peter Grimes und was genau liebt sie an ihm?

 

Rachel Willis-Sørensen: Ich weiß nicht, ob sie wirklich eine große romantische Liebe gegenüber Grimes hegt. Aber sie glaubt zumindest, dass sie ihn durch ihre Liebe retten beziehungsweise erretten und damit seine Probleme lösen kann.

 

Sie sieht sich als gutes Beispiel für die Menschen im Dorf, will Ihnen auch vermitteln, dass sie christlich sein und Peter Grimes verzeihen sollen. Außerdem glaubt sie fest, dass es möglich ist, dass auch er sich zum Besseren entwickeln kann, insbesondere wenn sie an seiner Seite ist. Doch leider funktioniert das nicht.

 

Maximilian Maier: Und warum funktioniert das nicht?

 

Rachel Willis-Sørensen: Grimes ist total besessen von der fixen Idee, seinen Platz in der Gesellschaft zu finden, sobald er vermögend ist. Er weiß, dass er als Außenseiter geächtet wird und will nicht, dass es Ellen durch ihre Verbindung zu ihm ebenso ergeht.

 

Indem er Geld verdient, meint er, sich seinen Platz in der Dorfgemeinschaft erkaufen zu können. Und deshalb hält er Ellen solange hin, bis er sein Ziel erreicht sieht. Doch das wird niemals geschehen.

 

Also macht er ihr fortwährend leere Versprechungen, mit denen sich Ellen irgendwann nicht mehr abfinden kann.

 

Maximilian Maier: Ellen Orford hat die schönste Musik in der Oper.

 

Rachel Willis-Sørensen: Das stimmt absolut.

 

Maximilian Maier: Was sagt das über den Charakter der Ellen Orford aus, dass sie so schöne, fast traumverlorene Musik zu singen hat?

 

Rachel Willis-Sørensen: Oh, so einen schönen Ausdruck habe ich noch nicht gehört. Traumverloren! Das ist sehr schön. Ich glaube, die Musik der Ellen soll zeigen, dass sie ein großes Herz hat und fest daran glaubt, durch ihre Wärme und Liebe andere von ihrem innerlichen Leid erlösen zu können.

 

Britten hat gesagt, es ist grauenhaft, wie schön die Musik sein kann, weil sie Menschen durch ihre Schönheit auch oftmals eine falsche Hoffnung vermitteln kann.

 

Und vielleicht ist es so, dass Ellen diese große Hoffnung hegt. Ihre Musik ist wunderschön, aber sie erreicht nicht, was sie sich wünscht.


©Michael Pöhn / Wiener Staatsoper

Jonas Kaufmann als Peter grimes an der Wiener Staatsoper

Der einsame Mann und die gefährlichen Tiefen des Meeres. Tobend, aufbrausend, wütend, unergründlich, unberechenbar und eiskalt mäandert das melodramatische Schauspiel des Komponisten Benjamin Britten...

 



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