Andris Nelsons Dirigiert und die Elbphilharmonie bebt bei süffig satten Strauss Klängen

21. Mai 2022

Rubrik Konzert

©Marco Borggreve

Gefreut hatte ich mich auf ein konzertantes "First-Date" mit der norwegisch statuesquen Lise Davidsen, die just an diesem Abend die Vier letzten Lieder des Komponisten Richard Strauss aus ihren stimmlich ozeanischen Tiefen an die sonore Oberfläche ihres raumgreifenden Soprans bringen sollte.

 

Doch zum Leidwesen des grassierenden Coronavirus musste nicht nur Davidsen durch die amerikanische Sopranistin Rachel Willis-Sørensen substituiert werden, sondern auch das hochgepriesene Boston Symphony Orchestra, das weltweit zu den fünf besten Klangkörpern zählt, fiel flächendeckend, Macht der höheren Gewalt, dem Virus zum Opfer.

 

Andris Nelsons, der sich auf einen Abend der musikalischen Superlative eingestellt hatte, blieb nichts anderes übrig, als sich mit den Münchner Philharmonikern zu arrangieren, die, was soll man sagen, in Klang, Ausdruck und agogischer Differenziertheit unübertroffen elegante Musikergüsse produzierten.

 

Dass Andris Nelsons sich aber mit seinem visionären Dirigat gleich vier Mal in einem Monat mit Strauss-Werken in der Hamburger Elbphilharmonie verewigt, kommt einem Glückstreffer gleich, denn der lettische Dirigent zählt ebenso wie sein indisponiertes Boston Symphony Orchestra zur Weltspitze der klassischen Künstlerrige.

 

©Daniel Dittus

Mit einem symphonischen Programm, das zwischen verträumten Klangwelten und tieftrauriger Verklärtheit changiert, geht Nelsons zum Auftakt des Abends mit Strauss "Träumerei am Kamin" an den Start.

 

Noch bäumt sich orchestral nichts auf, die Klänge fließen sacht und plätschern in nahezu duftig tonalen Gewässern vor sich hin.  Ausufernd satt dominieren die Streicher.

 

Sie bilden einen dichten Klangteppich, der sich von Mal zu Mal in zartflackernden Seufzern mit moderat steigender Dynamik legatosicher über das Auditorium ergießt.

 

Man spürt die verträumte Seele am Kamin, die Nachdenklichkeit, die tiefgründigen Gedanken eines Menschen in formgebender kompositorischer Interpretation tonal auf Maß geschneidert.

 

Und auch die Akustik gibt an diesem Abend keinen Anlass zur Beschwerde. Der Orchesterklang trägt, füllt den Raum unaufdringlich und dennoch präsent und tragend.

 

Als die amerikanische Sopranistin Rachel Willis-Sørensen mit den Vier letzten Liedern die letzten 25 Minuten vor der Pause füllt, erlebt man die ausgereifte Klangpoesie des Tondichters als pure Offenbarung.

 

©Daniel Dittus

Sørensen versteht sich stimmlich zu positionieren, ihre höchst individuelle Interpretation der Hesse und Eichendorff-Gedichte in Einklang mit dem musikalischen Erbe des alpenländischen Komponisten zu bringen und sich dabei vokal gekonnt über die große Orchesterbesetzung zu erheben.

 

Kammermusikalisch zurückgenommen, dem umsichtigen Dirigat des Taktstockmeisters sei Dank, bilden instrumentaler Teppich und Gesang einen einheitlichen Klangguss, der harmonisch farbenreich in die Sphäre der philharmonischen Kuppel entströmt.

 

Verzaubernd, entrückt und eigentlich gar nicht von dieser Welt, so blühend scheinen sich die melodischen Reize zu verselbstständigen, über die musikstilistische Struktur hinauszuwachsen, klangfarbensatt, üppig und teils kakofonisch rahmensprengend.

 

So gedeiht bei Strauss fast immer ein tonal verwunschener, wildwüchsiger Garten, genau dort, wo andere sich einen zurückgestutzten Ziergarten erschaffen.

 

Doch wen verwundert es, weiß man doch, dass der Garmischer seine Lebenszeit in der rauen Schönheit der alpin wilden Natur zugebracht hat.

 

©Daniel Dittus

Weniger rau, dafür umso schöner, zarter und von dennoch erhebender Ausdruckskraft singt sich Rachel Willis-Sørensen in beinahe transzendente Gefühlszustände. Die "Vier letzten Lieder" haben es ihr angetan. Das merkt und spürt man sofort.

 

Ergriffen von der balsamischen Wirkung der beseelt entrückten sowie tieftraurigen tonalen Einfärbung kommt man nicht umhin, sich gedanklich mit dem Lebensende auseinanderzusetzen, wenn auch nur bis zu dem Moment, an dem der von emotionaler Tiefe durchdrungene Gesang verebbt.

 

Mit "Till Eulenspiegels lustige Streiche" gelingt Nelsons gleich nach der Pause ein gelungener Wiedereinstieg und dazu noch der perfekte musikalische Streich. 

 

Orchestral mächtig und von dynamischer Wucht wird man programmatisch in eine visuelle Klangwelt entführt, in der die Geschichte des Till Eulenspiegel konturiert und ganz lebendig an die Oberfläche tritt.

 

Wie eine Handlung, mal abstrakter, mal konkreter und fassbarer glaubt man den Narren immer wieder lachen zu hören, was durch grelle Klarinettenzwischenrufe deutlich evoziert wird, genauso wie das Todesurteil, das in Form eines Septimfalls programmatisch optimal in Szene gesetzt wird.

 

©Daniel Dittus

Mit differenziertem Feinschliff arbeitet sich Nelsons kontinuierlich durch die Klangmalerei, dirigiert pinselstrichverliebt an seiner musikalisch farbenreichen Schöpfung herum, kreiert, interpretiert und erschafft ein tonal unverwechselbares Gemälde, das nach den finalen Akkorden zurecht mit frenetischem Applaus gewürdigt wird.

 

Höhepunktreif endet der musikalische Abend mit der sinfonischen Dichtung op. 24 "Tod und Verklärung", die von Erschöpfung, Schmerz, innerer Unruhe, Schlüsselmomenten, Retrospektiven und der finalen Erlösung von allem irdischen Sein erzählt.

 

Großartig interpretiert schafft es Nelsons die Dramatik, die gewaltige Unabänderlichkeit des Laufs der Dinge in seinem Dirigat zu verklangbaren. Verschmelzend mit dem Orchesterklang, untergehend wie ein glücklich Ertrinkender, versteht  man, dass Erlösung im musikalischen Sinne ein sich auf das Angenehmste Auflösen im Klang der Harmonien bedeuten kann.

 

Wenn nichts mehr ist, bleibt die Musik. Sich darin zu verlieren, Raum und Zeit zu vergessen, alles um sich herum bedeutungslos werden zu lassen, ist das nicht die große Kunst des Lebens, die wir in solch prägenden Momenten Virtuosen wie Andris Nelsons und Rachel Willis-Sørensen zu verdanken haben?

 


©Jan Reuter / Elbphilharmonie Hamburg

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