JOnas Kaufmann als Antiheld in Verdis Otello im Teatro San Carlo in Neapel

04. Dezember 2021

UNAUFGEFORDERTE WERBUNG

©Teatro San Carlo Neapel / Luciano Romano - Jonas Kaufmann & Maria Agresta

Aller guten Dinge sind drei! Ein Hattrick sozusagen, denn der Kassenschlager Otello mit Jonas Kaufmann in der Titelrolle spielt sich mittlerweile zum dritten Mal erfolgreich, dieses Mal sogar in einer mehr als kontroversen Operninszenierung im Teatro San Carlo in Neapel, haushoch in die Herzen des italienischen Publikums.

 

Musikalisch nicht zu toppen, wirft aber die Interpretation des normalerweise historiengetreu inszenierten Melodrams Giuseppe Verdis einige Ungereimtheiten auf.

 

Oder ist es nur, weil das modern in Szene gesetzte Eifersuchtsdrama in einem so extrem gegenwärtigen Kontext verhaftet ist?

 

Bereits am Bayerischen Nationaltheater im Jahr 2018 schien Jonas Kaufmann als traumatisierter Otello ein wenig neben sich zu stehen, stellte er doch so gar nicht den heroischen Kriegshelden zur Schau, den man noch in seinem Debütjahr zuvor am Royal Opera House in London bewundert und angeschmachtet hatte.

 

Das Regiewerk des Italieners Mario Martone macht nun jegliche Illusion von einem verklärten Eifersuchtsdrama mit romantischen, leicht gefühlsduseligen Ansätzen zunichte.

 

©Teatro San Carlo Neapel / Luciano Romano - Jonas Kaufmann & Maria Agresta

Stattdessen umrahmt eine brutale Wirklichkeit das Opernepos, welches in der Gegenwart in einem Kriegsgebiet im Nahen Ostens spielt. Inmitten einer kargen Wüstenlandschaft wüten feindliche Truppen im Kampf um die Rettung eines Flüchtlingskonvois.

 

Otello, der Anführer der venezianischen Truppen, kämpft zusammen mit seiner ihm ebenbürtigen Ehefrau Desdemona mit aller Macht gegen die Muselmannen um das Überleben der marginalisierten Minderheit. 

 

Im Strudel apokalyptischer Kämpfe gefangen, befreien sich Otellos Soldaten zu guter Letzt siegreich aus der blutigen Schlacht.

 

Frenetisch wird Otellos Triumph über den Feind gefeiert.

 

An seiner Seite die selbstbewusste Desdemona, die viel mehr an eine rebellische Lara Croft, als an eine devote, zart besaitete Prinzessin aus dem Morgenland erinnert.

 

©Teatro San Carlo Neapel / Luciano Romano - Jonas Kaufmann & Maria Agresta

©Teatro San Carlo Neapel / Luciano Romano - Jonas Kaufmann & Maria Agresta

Burschikos und uniformiert steht sie ihrer Frau und Otello in Rang und Status in nichts nach. Sie kämpft für ihre Ziele ganz zum Missfallen ihres chauvinistischen Ehemanns, der als machtbesessener Einzelgänger keinen Widerstand duldet, schon gar nicht von einer Emanze, der er scheinbar emotional und intellektuell nicht das Wasser reichen kann.

 

Und so mutiert Otello in dieser brandaktuellen Kontroverse gleich zu Beginn des ersten Aktes zu einem Antihelden, für den das Morden alltäglich und die Frau als Besitz zu verstehen ist.

 

Zwischenmenschliche Zärteleien gibt es, wenn überhaupt, nur andeutungsweise im einmaligen Liebesduett "Già nella notte densa", dann nämlich, wenn sich Otello und Desdemona auf dem warmen Wüstensand vor sternenklarer Kulisse schmachtend anhimmeln.

 

Ansonsten bleibt es rigide militant. Die Fronten der Eheleute wirken verhärtet, was nicht zuletzt noch durch die vermeintliche Untreue Desdemonas befeuert wird.

 

©Teatro San Carlo Neapel / Luciano Romano - Jonas Kaufmann & Maria Agresta

Kein umhäkeltes Taschentuch, kein damenhaftes "Forzaletto" im historienüblichen Sinn, das dem Eifersuchtsdrama die szenische Würze verleiht, sondern ein blutrotes Palästinensertuch, der Inbegriff aufständischen Rebellentums.

 

Was uns der Regisseur damit wohl sagen will?

 

Das es weibliche Rebellion auf ganzer Linie ist? Desdemona will es in jedem Fall wissen und provoziert ihren Ehemann Otello, wo sie nur kann.

 

Selbst als Otello sie im dritten Akt in den Dreck befördern will und ihr befielt, auf dem Boden zu knien, entfacht ein handgreifliches Gemenge zwischen den beiden Streithähnen, bei dem sich insbesondere Desdemona vehement zur Wehr setzt, ihre Fäuste und Krallen ausfährt und zum Gegenangriff übergeht.

 

Wirklich freiwillig geht sie jedenfalls nicht in die Knie. Und schon gar nicht lässt sie Otellos Demütigung kampflos über sich ergehen.

 

Umso verwunderlicher erscheint die Schlussszene, in der sich die revolutionäre Kämpferin mit einer Waffe gegen Otellos mörderische Gelüste zur Wehr setzen will. Doch sie schießt nicht, sondern zögert und lässt sich so die Waffe mit einem einzigen gekonnten Handgriff entwenden. Damit ist ihr Schicksal ein für alle Mal besiegelt.

 

©Teatro San Carlo Neapel / Luciano Romano - Jonas Kaufmann & Maria Agresta

Und so geschieht der Mord Otellos an seiner Ehefrau Desdemona wohl aus einem niederen Instinkt heraus oder doch viel mehr aus einer geplanten Vorsätzlichkeit, die durch seinen Hass auf das selbstbewusste weibliche Geschlecht geschürt wird?

 

Gewalt an Frauen: Dieses Thema ist so brandaktuell, dass der Opernregisseur Mario Martone dem Femizid nicht nur eine Bühne bereitet, sondern auch das selbstbewusste Frauenbild der heutigen Gesellschaft auf ein Podest hebt.

 

Otello wird dabei zum Antihelden denunziert, weil er nicht Manns genug ist, die starke Persönlichkeit seiner Ehefrau zu tolerieren und zu wertschätzen.

 

Und Desdemona avanciert zu einer modernen Heldin, die sich in einer von Männern dominierten Welt behaupten kann und dennoch am Ende an den Grenzen ihrer eigenen Ehe jämmerlich scheitert. Was für ein realitätsnahes Drama!

 

Genauso dramatisch singen sich auch die Protagonisten des Melodrams in einen gesteigert klangexplosiven Rausch.

 

©Teatro San Carlo Neapel / Luciano Romano - Jonas Kaufmann & Maria Agresta

Jonas Kaufmann als Otello überzeugt dabei auf ganzer Linie. Pinpoint phrasiert, vokalsatt und mit einem tiefdunklen, baritonal eingefärbten Klangschmelz durchlebt der Münchner Tenor auch schauspielerisch die Vielschichtigkeit seiner Paranoia, die vom Wahnsinn getrieben, in gerade noch kontrolliert ekstatische Gefühlsausbrüche mündet.

 

Auch Maria Agresta, alias Desdemona spielt die Rolle der rebellierenden Emanze überzeugend. Ausdrucksstark und mit einer darstellerischen Leidenschaftlichkeit zeigt sie auch gesanglich, was ihr volltönend samtzarter Sopran vokaltechnisch so alles drauf hat. Dabei kommen die intensiv tonal zum Ausdruck gebrachten Emotionen ebenfalls nicht zu kurz.

 

Igor Golovatenko, der als Jago die Bühne unsicher macht, beweist vokales Könnertum und schauspielerische Exzellenz. In der Rolle des niederträchtigen und abstoßend intriganten Bösewichts zieht Golovatenko alle Gefühlsregister, die der düstere Charakter des Jago hergibt.

 

Orchestral überzeugt auch der italienische Dirigent Michele Mariotti, der sich zum ersten Mal an die vorletzte Oper Verdis heranwagt.

 

Souverän erweckt er gleich mit dem Vorspiel den peitschend, aufbrausenden Sturm auf der Bühne zum Leben. Lebendig und mit einer großen Portion italienischem Temperament wird Mariottis Dirigat zu einem Klangerlebnis für die Sinne.

 

Auch wenn sich das italienische Publikum viel lieber an einer konventionellen Inszenierung sattgesehen hätte, so zeigt doch der stürmische Applaus, dass die Oper Kontroversen aufwerfen darf, wenn es dem Drama im zeitgenössisch kontextuellen Zusammenhang an interpretatorischem Esprit nicht fehlt.


©Teatro San Carlo Neapel / Jonas Kaufmann & Maria Agresta

Die Sopranistin Maria Agresta, der Tenor Jonas Kaufmann und der Regisseur Mario Martone geben Einblicke in die dramaturgische Welt des Otello.

 

Dabei werden die jeweiligen Charaktere der Rollenfiguren thematisiert und erläutert.

 

Das Video des Teatro San Carlo in Neapel ist in italienischer Sprache ohne Untertitel.

 


Weitere Aufführungen mit Jonas Kaufmann und Maria Agresta finden an folgenden Terminen statt:

 

28. November 2021

01. Dezember 2021

04. Dezember 2021

 

Weitere Informationen und Tickets unter:

 

www.teatrosancarlo.it


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