Sir Antonio Pappano und Igor Levit erobern die Elbphilharmonie im Begeisterungssturm der Gefühle

05. September 2022

Rubrik Konzert

©Malin Hocke / Elbphilharmonie Hamburg

Das mir je ein Abend in der Elbphilharmonie so eindrücklich und unauslöschbar im Gedächtnis verhaftet bleiben würde, hätte ich nie zu träumen gewagt. 

 

Zwei Ausnahmekünstler, die sich in der Elbphilharmonie tondichterisch mit Werken von Schönberg und Busoni austoben, hätten mich unter minder virtuosen Voraussetzungen zu so einer speziellen, zeitgenössischen Musikreise in überwältigend grenzgängerische Klangwelten niemals bewegt.

 

Als viel zu schwer, zu wenig greifbar, fern und gehörfremd abgestempelt, wäre es mir normalerweise nicht in den Sinn gekommen, mich auf die Gattung der zeitgenössischen Musik einzulassen, wohl auch aus der Angst heraus, dieser doch extrem tiefschürfenden, wachrüttelnden Musikgattung physisch und psychisch nicht gewachsen zu sein.

 

Immer behielt der Fluchtgedanke die Oberhand und hinderte mich daran, meinen Geist in eine neue Richtung zu spreizen und mich dem Wagnis des für mich unbequemen Neuen unvoreingenommen hinzugeben.

 

Dank der Dirigentschaft von Sir Antonio Pappano und der klaviertuosen Magie Igor Levits trifft mich am heutigen Konzertabend völlig unvorbereitet die ganz große, geballte Macht, die mir jemals zuvor in einer Musik zuteil wurde.

 

Ganze 70 Minuten gefesselt, hypnotisiert und magisch hineingezogen in einen tonalen Erlebnisraum aus multidimensionalen Wunderklängen, lasse ich mich verführen von einer ganzen Weltanschauung, die der Komponist Ferrucio Busoni in seinem Klavierkonzert Op. 39 verarbeitet hat.

 

©Malin Hocke / Elbphilharmonie Hamburg

©Malin Hocke / Elbphilharmonie Hamburg

Eine weltanschaulich tönende Ewigkeit, möchte man meinen. Denn 70 lange Minuten können unhaltbar, erschöpfend, auslaugend und einfach nur anstrengend sein.

 

Doch Busonis Meisterwerk elektrisiert und setzt einen zuweilen so unter Strom, dass man sich vor ergreifender Anspannung kaum auf seinem Sitz halten will, obgleich man durch die monumentale Wirkkraft der Musik von seinen eigenen Gefühlen schier überwältigt wird.

 

Die Musik hat einen total im Griff, man ist kaum noch Herr beziehungsweise Frau seiner selbst, sondern löst sich von Minute zu Minute immer mehr in der Naturgewalt dieser symphonischen Dichtung auf, die doch eigentlich mehr Klavierkonzert sein soll und dennoch so viel mehr ist, als sie auf dem Programmheft vorgibt zu sein.

 

Keine drei, sondern insgesamt fünf berauschende Sätze umfasst diese musikalisch geniale Schöpfung, in der sich Kunst, Naturmystik und Religion auf so symbiotische Weise miteinander vereinen wie das Zusammenspiel aus Symphonieorchester, Chor und Klavier augenhöhenkonform stattfindet.

 

Groß, nahezu übermächtig ist der Klang, in ihm verschmelzen zu gleichen Teilen seine Partizipienten.

 

Homogen und mit einer Stimme evozieren Instrumentalisten, Chor und Pianist eine musikalische Kernschmelze. Selten hört man das Klavier im Alleingang autonome Magie aus den Fingerkuppen zaubern.

 

Und wenn, dann erhebt es sich eruptiv aus dem dichten, satten und volltönenden Klangteppich des Orchesters und sprenkelt kaleidoskopische Farbenfunken in das Auditorium.

 

©Malin Hocke / Elbphilharmonie Hamburg

©Malin Hocke / Elbphilharmonie Hamburg

©Malin Hocke / Elbphilharmonie Hamburg

©Malin Hocke / Elbphilharmonie Hamburg

Dabei berührt Igor Levit zutiefst. Mit ausladendem, obgleich kontrolliertem Ansatz und schier unerschöpflicher Energie dringen seine Hände kraftvoll immer und immer wieder in die Klaviatur ein und bezwingen virtuos jede einzelne Taste. Arabesquenhafte Verzierungen, akrobatisches Fingerspiel, extreme Läufe:

 

Manchmal wirkt die Beherrschung über das Tasteninstrument wie ein Kampf ums Dasein, dessen Ausgang solange ungewiss bleibt, bis der vorerst letzte tonangebende Impuls auf der Tastatur von Menschenhand zum Verstummen gebracht wird.

 

Eine schweißtreibende Angelegenheit, derer sich Levit mit einem Wisch des Handrückens von der Stirn entledigt. Mentaler und körperlicher Einsatz scheinen unabdingbar zu sein, um den Kern der musikalischen Botschaft vollends in das Publikum transportieren zu können.

 

Während anderenorts die Schweißperlen weiter fließen, quellen unaufhaltsam Tränen aus meinen Augenwinkeln hervor. Ich bin berührt, gerührt und ergriffen von so viel kompakter Musikgewalt, die ich weder greifen noch vollumfänglich verstehen kann.

 

Verstehen, dass man nicht immer alles verstehen kann und muss:

 

Diese Erkenntnis beglückt mich irgendwie. Und nun rollen auch die Freudentränen über meine Wangen, denn im Hier und Jetzt begreife ich die Verschmelzung von Kunst und Geist im tönenden Raum, was wahrnehmbar kollektiv um mich zu greifen scheint. Ist das noch zu ertragen?

 

 

©Malin Hocke / Elbphilharmonie Hamburg

©Malin Hocke / Elbphilharmonie Hamburg

Alles scheint in der Elbphilharmonie in Bewegung zu sein - das Publikum innerlich bewegt und die Stars auf der Bühne im bewegten Einklang mit den Klangwellen und der Musik.

 

Auf einer Woge feinster, perlmuttsatter Orchestralklänge, edel schimmernd, klar konturiert und mit leidenschaftlicher Expressivität versehen, gelingt Sir Antonio Pappano ein Dirigat, das den Charakter der Kompositionen Schönbergs und Busonis bei Weitem mehr als nur gerecht wird.

 

Nicht überladen, nicht emotional ausgeschlachtet, immer authentisch, wahrhaftig und den schmalen Grat zwischen musikalischer Offenbarung und monumentaler Grandezza meisternd, fördert Pappano ganz ohne Taktstock, dafür in meisterlicher Handarbeit emotionale Temperaturen zutage.

 

Als würde er jeden Ton dabei zerkauen, entsteht eine tonale Momentaufnahme, die vielleicht so nie wieder zu hören sein wird.

 

©Malin Hocke / Elbphilharmonie Hamburg

70 lange Minuten können an diesem Abend nicht lang genug sein, um vollumfänglich in die Untiefen musikalischer Wahrhaftigkeit einzutauchen. Viel zu gerne würde ich mich noch stundenlang von den rauschhaften Klangwellen tragen lassen wollen, gerne bis weit in einen gesunden Ermüdungszustand hinein.

 

Noch immer fließt die Musik, sie rauscht, lamentiert, weint, schreit, begehrt auf, liebt, verliert sich in ihrem eigenen Bildnis, das von so unsagbarer Schönheit, kaum zu fassen ist.

 

Mit dem letzten Schlussakkord endet ein endlos und uferlos erscheinendes Klavierkonzert, das sich in Grenzenlosigkeit ausprobiert hat.

 

Das Publikum bleibt überraschend stumm. Sprachlos werden die letzten Klangwellen absorbiert. Dann bricht der Begeisterungssturm los. Es schlägt Applauswellen, brandend, tobend und erst nach 10-minütigen Ovationsbekundungen verebbend.

 

Noch nie habe ich eine so leidenschaftliche, ehrliche Begeisterung bei einem Konzert in der Elbphilharmonie vernommen wie just an diesem unvergesslich bleibenden Abend. Antonio Pappano und Igor Levit haben Herzensarbeit geleistet, Seelen berührt und ein volles Haus mit einem tonal unwiederbringlichen Zauber übermantelt.



©Jan Reuter / Elbphilharmonie Hamburg

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©Marco Borggreve

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©Daniel Dittus

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