Keiner schläft, wenn Gregory Kunde den Calaf an der Staatsoper Hamburg gibt

13. April 2024

Rubrik Oper

©Hans Jörg Michel /Staatsoper Hamburg

Keiner schläft, wenn Puccinis "Nessun Dorma" in Auditorien, Fußballstadien und Konzertsälen erklingt. Diese Arie zieht jeden auch noch so klassikfremden Musikliebhaber magisch in den Bann, insbesondere wenn Tenorgrößen diesen Opern-Hit mit heroischer Strahlkraft darbieten.

 

Auch an diesem letzten Abend einer Vorstellungsserie der Oper Turandot an der Staatsoper Hamburg fiebert man direkt nach der Pause auf diese höhepunktreife Heldenarie hin, denn ihr Gelingen steht und fällt mit der Besetzung des Tenors. Immer! Und nicht nur damit.

 

Von Nicole Hacke

 

Kompositorisch mit einem exotischen Lokalkolorit versehen, fremdklingend und harmonisch wenig süffig, erlebt man dieses letzte, wenn auch musikalisch befremdliche Meisterwerk Puccinis als Sonderling unter allen anderen deutlich melodiöseren und Hit-verdächtigeren Werken des Italieners.

 

Sperrig und wenig gefällig klingt es daher für das Verismo-verwöhnte Gehör. Mit einer Handvoll verlesener Weltstars wird allerdings auch diese, für mich selten frequentierte Oper, zu einem absoluten Ereignis der Superlative. 

 

Vokalathletik auf höchstem Niveau, rundum großartige Stimmen: Ob es nun die Rolle der Liu, des Calaf oder der Turandot ist, an diesem Abend werden Herzen im Publikum erweicht, auch wenn das der Eisprinzessin auf immer und ewig starr und stumm bleibt.

 

Sei es drum! Die schaurig schöne Geschichte, die auf einem persischen Märchen basiert, bringt am Ende Augen zum Leuchten, ob der Tränen, die sie still und heimlich im Dunkel des Auditoriums vergossen haben.

 

©Hans Jörg Michel /Staatsoper Hamburg

©Hans Jörg Michel /Staatsoper Hamburg

Genau so muss sich Oper anfühlen. Überraschen und packen muss sie einen immer wieder aufs Neue. Dann fühlt es sich richtig an, dann ist es echt und gelebtes Gefühl. Mit dieser Produktion in einer herausragenden Besetzung gelingt genau das dem hanseatischen Musentempel.

 

Besonders fasziniert dabei der US-amerikanische Tenor Gregory Kunde, der mit seinen 70 Jahren einen dynamischen Calaf an den Tag legt, wie man es sich von einem Sänger im fortgeschrittenen Alter kaum vorstellen kann.

 

Wendig und agil auf der Bühne, schauspielerisch fokussiert sowie gesanglich bemerkenswert stentoralkräftig, so felsenfest steht der Sänger immer noch im Saft seiner vollen Kräfte und Vitalität und sprengt damit alle Grenzen des stimmlichen Jugendwahns. 

 

Satt in der Mittellage, prächtig und von brillanter Schönheit in den exponierten Höhen. Wüsste man nicht um das Alter des Tenors, die Messlatte könnte für Kunde nicht hoch genug sein, um es ganz souverän mit ihr aufzunehmen. 

 

Unglaublich wie das kernige Mannsbild den Namen der Turandot ausdauernd und voluminös satt und rund in den Saal schmettert.  Herrliche Phrasierungen, feingeschliffene Höhen, frisch und voller Verve, so kann eine Stimme im schönsten Herbst ihres Lebens klingen. Erstaunlich!

 

©Hans Jörg Michel /Staatsoper Hamburg

©Hans Jörg Michel /Staatsoper Hamburg

Da mag man bei so viel künstlerischem Gehalt gar nicht mehr über die minder relevanten Defizite des Tenors sprechen wollen.

 

Doch wenn es um den Fetisch geht, den die Arie "Nessun Dorma" bei ganz vielen Menschen weckt, fängt man unweigerlich an, individuelle Interpretationen miteinander zu vergleichen, gegeneinander abzuwägen, sich minutiös in jede einzelne Phrasierung, Legato-Linie, Dynamik und emotionale Temperatur zu verbeißen und sie entsprechend vernichtend oder aber lobend in sämtliche Einzelteile seiner eigenen, höchst subjektiven Beurteilung zu zerlegen.

 

Welcher Tenor singt sie göttlich? Wer schafft es gerade Mal, sich ihrer gesangstechnisch zu ermächtigen? Wer berührt mit ihr am meisten und berührt die Seelen des Publikums dabei so sehr, dass am Ende der Vorstellung keiner wirklich mehr schlafen kann und will. 

 

Kunde singt sein "Nessun Dorma" famos, kraftvoll und heroisch. Und dennoch: Es fehlt ein wenig der lange Atem, die ausufernd schönen Legato-Linien, die kontrollierte Ruhe sowie die geballte Wucht auf dem letzten Ton eine Punktlandung zu erzielen.

 

Denn dieser letzte so wichtige Ton muss einfach das Gefühl von Ewigkeit verströmen. Man muss ihn ein paar Sekunden länger halten, indem man gegen die schwindende Kraft des langen Atems stoisch ankämpft, kurz bevor sich der agogisch aufbäumende Orchesterklang in einem fulminant finalen Crescendo ergießt.

 

Doch das ist einfacher gesagt als getan. Die Arie hat Tücken, auch wenn sie so eingängig und Pop Hit verdächtig salopp über die Lippen zu gleiten scheint.

 

Ein ebenso schweres vokalathletisches Standbein hat auch die polnische Sopranistin Ewa Plonka, die als Turandot kalt, unnahbar und herzlos wirken muss. Gesanglich ein unvorstellbar schweres Los, ob der Interpretation und des vokalen Gehalts.

 

Denn gesanglicher Facettenreichtum wird hier nicht in den warmen Farbschattierungen zelebriert, sondern vielmehr in den kühlen Nuancen tonal distanzierter Eleganz.

 

©Hans Jörg Michel /Staatsoper Hamburg

©Hans Jörg Michel /Staatsoper Hamburg

Ja, es ist schwer zu erklären, was man genau wie hört. Ebenso schwer wird es für die Sopranistin sein, sich dieser sehr frigiden Rolle hinzugeben.

 

Schließlich können die meisten Menschen auf der Welt Liebe empfinden und Liebe geben. Turandot kann es nicht, noch nicht einmal, als sie den Namen Calafs entschlüsselt. Er nämlich ist die Liebe, die Turandot verschmäht und noch dazu gewaltvoll mit Füßen tritt.

 

In dieser Inszenierung der Regisseurin Yona Kim gibt es kein Happy End. Bereits das Bühnenbild mit seinem steril wirkenden 20er Jahre Flair, unwohnlich und wie ein frostig wirkendes Schattenreich, löst von der ersten Sekunde an ein beklemmendes Gefühl in der Brust aus.

 

Gefangen in diesem hochherrschaftlichen Käfig, erschüttert die Terrorherrschaft der Regentin Turandot das Land. Kein Prinz schafft es, das Herz der Eisprinzessin zu erweichen. Alles schreit danach, die Füße in die Hand zu nehmen, um so schnellstmöglich die Flucht ergreifen zu können.

 

Ewa Plonka hat in diesem ernüchternden Ambiente ihren großen Auftritt. In prächtiger Abendrobe à la Hollywood gibt sie eine schillernde Erscheinung ab. Und auch gesanglich leuchtet ihr Stimmmaterial bis in den letzten tonalen Winkel exponierter Höhen. Nicht ein einziges Mal klingt es schrill oder gar hysterisch aus ihr heraus. Eisig vielleicht, aber das ist gewollt und wirkt außerordentlich gekonnt.

 

Liu, die von der lateinamerikanischen Sopranistin Adriana Gonzaléz zum Besten gegeben wird, fällt sofort durch ihren lyrisch anmutigen Sopran auf. Weich, geschmeidig und unendlich biegsam bis in die Obertöne hinein, entgleiten ihr tonal zartschimmernd nuancierte Farben, pastellig und von duftiger Intensität bis in die leisesten Haarspitzen ihrer eleganten Stimme.

 

Diese Frau ist der absolute Wahnsinn. So schön habe ich diese warmherzige Partie lange nicht mehr gehört.

 

Orchestral erschafft der italienische Dirigent Daniele Callegari ein Klanggemälde aus feinsten Pinselstrichen, farbenreich, konturiert und mit einer besonders starken tonalen Deckkraft. Nicht mal im Traum kann die Vision dieser einzigartigen musikalischen Interpretation schöner sein. Was für ein Abend, was für ein frenetischer Applaus. Sogar der Chor bejubelt stampfend die Solisten, allen voran Gregory Kunde.

 

Besetzung:

 

Musikalische Leitung:

Daniele Callegari

 

Turandot

Ewa Plonka

 

Calaf

Gregory Kunde

 

Timur 

Liang Li

 

Liù

Adriana Gonzaléz

 

Ping

Frederic Mörth

 

Pang

Daniel Kluge

 

Pong

Florian Panzieri

 

Altoum

Jürgen Sacher

 

Un Mandarino

Chao Deng


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