Im Gespräch mit Alessandro Praticò: "In der Musik sprechen wir von zeitlosen Gefühlen. Genau deshalb ist kein einziges Werk sinnlos!"

10. Juli 2025

Rubrik Interviews

©Geoffrey Schied

Er ist ein unkonventioneller Künstler. Er ist hinreißend, mitreißend, aber vor allem mit ganzem Herzen dabei: Alessandro Praticò gehört schon jetzt zur neuen Generation Liedbegleiter, die es versteht, mit emotionalen Temperaturen und leidenschaftlicher Verve Klangpoesien voller Magie und Strahlkraft zu kreieren.  

 

Entgegen aller Annahmen, er würde als Berufsmusiker das Brot nicht auf den Tisch bringen können, verfolgte er mit Disziplin und Leidenschaft  seinen Weg in eine pianistische Karriere. Heute steht er mit Operngrößen wie Lisette Oropesa auf den internationalen Bühnen der Welt, liebt aber auch seine Arbeit als Solorepetitor an der Bayrischen Staatsoper.

 

Allüren hat der sympathische Italiener keine. Ganz im Gegenteil: Die Bescheidenheit steht ihm gut zu Gesicht und macht ihn darüber hinaus zu einer künstlerischen Persönlichkeit von Format. 

 

Von der Neugier stets getrieben, erfindet sich Alessandro Praticò immer wieder neu. Aber nicht nur das; er perfektioniert dadurch auch seine pianistischen Fähigkeiten, die ihn zu einem begehrten Liedbegleiter machen.

 

Für Alessandro Praticò ist die klassische Musik etwas zutiefst Menschliches, die uns zeitlose Gefühle übermittelt und deshalb auch niemals sinnlos wird. Genau das ist auch die Magie, von der Alessandro Praticò in diesem sehr persönlichen Gespräch eindrücklich zu erzählen weiß.  

 

Operaversum: Was war bei Dir der Auslöser, Dich für eine pianistische Laufbahn zu entscheiden?  

  

Alessandro Praticò: Tatsächlich habe ich mich erst im späten Teenageralter für diese Laufbahn entschieden.  Das ich aber Musiker werden wollte, stand für mich schon in sehr jungen Jahren fest, denn ich bin durch meine Musik-begeisterte Familie sehr in diese Richtung geprägt worden. 

  

Ob Tante, Onkel, Vater, Bruder oder Schwester; alle spielen, seit ich denken kann, ein Instrument, obgleich kein einziges Familienmitglied jemals eine Partitur in die Hand genommen, geschweige denn Musik studiert hat. 

  

Operaversum: Verstehe ich das richtig? Deine Familie hat sich das Musizieren autodidaktisch beigebracht? 

 

Alessandro Praticò: Das verstehst Du genau richtig. Bei uns wurde ohne Noten und rein nach Gehör musiziert. Und was mich anbelangt, so haben meine ersten pianistischen Gehversuche an einem alten E-Keyboard stattgefunden, denn als ich klein war, gab es noch keine E-Pianos. 

  

Nachgeeifert habe ich zuerst meinem größeren Bruder, der sich an der Klaviatur probiert hat und den ich anfangs versucht habe, musikalisch zu imitieren. 

  

Da mir aber natürlich niemand aus meiner Familie das Klavierspielen beibringen konnte, habe ich mich auf eigene Faust daran gemacht und mir die Harmoniestrukturen selbst angeeignet. 

  

C-Dur war in meiner Vorstellung beispielsweise der König aller Tonarten. Und so habe ich mir für jede Tonart eine Märchenfigur imaginiert, was letztendlich dazu geführt hat, dass ich mir mit dieser kindlichen Methode meine Tonleitern und Harmonien autodidaktisch zurechtgelegt habe. 

  

Aber das wurde mir erst mit der Aufnahme meines Klavierstudiums so richtig bewusst. 

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Operaversum: Um sich autodidaktisch so ins Zeug legen zu können, braucht es definitiv eine gehörige Portion Biss und Leidenschaft! 

  

Alessandro Praticò: Die braucht es unbedingt, Nicole, zumal oftmals das Verständnis für Musikerkarrieren fehlt. Meine Eltern standen meinem Berufswunsch anfänglich skeptisch gegenüber.

 

Doch dann haben sie mein Talent schnell erkannt und gemerkt, wie ernst es mir mit der Musik ist.

 

Heute sind sie sehr stolz auf mich und unterstützen mich auf meinem Karriereweg, wo immer sie nur können.

 

Operaversum: Ich verstehe genau, wovon Du spricht. Musik ist in unserem Wortgebrauch eine "brotlose Kunst"!   

 

Alessandro Praticò: So ähnlich heißt es bei uns in Italien auch. Wir sagen "Musik bringt das Brot nicht auf den Tisch", was im weitesten Sinne bedeutet, dass Du nicht nur Dich, sondern auch Deine Familie nicht ernähren kannst. Nichtsdestotrotz habe ich mich in meiner Berufswahl nie beirren lassen und meinen Plan, Berufsmusiker zu werden, sehr konsequent verfolgt.  

 

Operaversum: Und Deine Familie hat Dich dabei unterstützt?

  

Alessandro Praticò: Meine Tante hatte ein Gespür dafür, dass hinter meinem Talent sehr viel musikalische Substanz steckt. Daraufhin hat sie mich am Klavier gefördert, aber relativ schnell feststellen müssen, dass sie mir bereits nach zwei Unterrichtseinheiten nichts mehr beibringen können würde. 

 

Operaversum: Das bedeutet, Du warst in Deiner musikalischen Entwicklung Deiner Tante um Einiges voraus? 

  

Alessandro Praticò: Anscheinend war es so! Deshalb habe ich dann auch die Klavierlehrerin gewechselt. Damals schon hatte ich die besondere Gabe, nach Gehör spielen zu können. Meine Klavierlehrerin musste mir dann die Übungen immer erst einmal vorspielen, so dass ich bei meiner nächsten Unterrichtseinheit kein Problem damit hatte, das jeweilige Stück ohne Noten aus dem Kopf zu reproduzieren.

 

Natürlich ist das irgendwann aufgeflogen, als mich meine Lehrerin bat, ab einer bestimmten Stelle innerhalb der Partitur vorzuspielen. In dem Moment war ich natürlich total raus.

  

Operaversum: Aber noch Mal zurück zu Deinen Karriereplänen. Du hattest Deinen Weg von Anfang an glasklar vor Augen? 

  

Alessandro Praticò:  Auf jeden Fall! Als ich mich zum ersten Mal für das Opernstudio in Paris beworben habe, wusste niemand von meiner heimlichen Aktion. Ich habe meine Bewerbung dort einfach hingeschickt, bin dann im Opernstudio vorstellig geworden und vom Fleck weg engagiert worden.

 

Meine Vorspiele waren allesamt so überzeugend, dass ich direkt überall angenommen wurde.

  

Operaversum: Wenn man Dich, so wie ich, einmal live in Aktion erlebt hat, kann man daran auch keinerlei Zweifel hegen! Nun bist Du aber nicht nur Liedbegleiter, sondern auch Solorepetitor, Solist und Vocal Coach. Lieber Alessandro, welches Fach übst Du am liebsten aus? 

  

Alessandro Praticò: Nicole, was für eine Frage! 

  

Operaversum: Nun, diese Bandbreite an Spezialisierungen ist doch einfach total faszinierend. Da muss ich schon auch nachhaken, wofür Dein Herz am meisten schlägt!  

  

Alessandro Praticò: Alle Fächer sind für mich gleichbedeutend, auch wenn man denken mag, dass diese Berufsfelder voneinander entkoppelt sein müssten. Nicht so für mich, da ich immer schon ein sehr neugieriger Mensch war und bin und mich meine Neugierde dahingehend treibt, dass ich mich und mein Umfeld immer weiterentwickeln und verbessern möchte. Und das geht nur, wenn man von allen Tätigkeitsfeldern, die man ausübt, gleichermaßen inspiriert ist und vor allem davon auch Ahnung hat. 

 

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Operaversum: Also kann man zusammenfassen, dass sich all Deine Fächer gegenseitig befruchten? 

  

Alessandro Praticò: Korrekt! Es ist ganz wichtig, seine Fühler in die fachübergreifenden Bereiche auszustrecken, um zum Beispiel einen Sänger bei seiner Arbeit bestmöglich unterstützen zu können. 

  

Wenn man möchte, dass sich ein Sänger stimmlich und im Ausdruck verbessert, dann tut man gut daran, selbst praktische Erfahrungen im Gesang gesammelt zu haben, wie bei mir der Fall. 

  

Ich wollte nämlich von Anfang an verstehen, wie der Stimmapparat funktioniert. Hinzu kommt, dass man in der Probenphase auch schon mal selber singen muss, während man sich am Klavier dazu begleitet. Das kommt eben auch mal vor, wenn der Probensänger ausfällt. 

  

Aber wenn Du mich nun fragen würdest, was ich von den vier Berufsfeldern, die ich derzeit bekleide, am allerwenigsten bin, dann ist es wahrscheinlich der des Liedbegleiters. Schließlich habe ich keine Spezialisierung in dem Fachbereich und weiß somit nicht um die Tradition des Liedes. 

  

Wenn ich aber dennoch als Liedbegleiter agiere und folgende Parameter wie Tempo, Text, Kompositionsstil und natürlich die Partitur für Klavier und Stimme vor mir habe, dann nehme ich diese als Basis und arbeite meine persönliche Interpretation, nämlich das, was mir die Partitur sagt, heraus. Und das funktioniert fantastisch. 

 

Operaversum: Und dass es so gut funktioniert, behaupten schließlich auch Ludovic Tèzier und Lisette Oropesa, die beide unglaublich gerne mit Dir zusammenarbeiten. Wie kommt es, dass gerade auch Ludovic Tézier Dich als Liedbegleiter präferiert? 

  

Alessandro Praticò: Nun, er bevorzugt mich, weil ich mich als Liedbegleiter nicht zurückhalte. Übrigens schätzt das auch Lisette Oropesa an meiner Arbeit. 

  

Operaversum: Das klingt sehr spannend, ist es doch so, dass sowohl der Sänger als auch der Liedbegleiter jeweils ihre eigenen Gefühle, sprich die eigene Interpretation in das Werk des Komponisten legen. Und diese jeweiligen Emotionen können letztendlich auch voneinander abweichen. 

  

Wie kommt ihr da auf einen interpretatorischen Nenner? 

  

Alessandro Praticò: Genau das ist der springende Punkt und auch der Grund, warum der Beruf des Liedbegleiters ein sehr schwieriger Beruf ist. Schließlich steht der Sänger an erster Stelle und macht sich emotional vor dem Publikum nackig. 

  

Und wenn Du dann noch mit Künstlern wie Ludovic Tézier oder Lisette Oropesa zusammenarbeitest, die in ihrem Fach so herausragend sind, weil sie sich emotional über den gesanglichen Tellerrand hinauslehnen, dann brauchen sie gerade deshalb einen Liedbegleiter, der sie zu ihrer eigenen Interpretation anstacheln kann.  

  

Operaversum: Und das heißt, Du fungierst für die Sänger als Inspirationsquelle? 

  

Alessandro Praticò: Als Liedbegleiter bin ich auf der Bühne alles für die Sänger: Sicherheit, Inspirationsquelle...  

  

Operaversum: Ein künstlerisches wechselseitiges Befeuern sozusagen? So ähnlich wie bei einem Ping-Pong-Spiel? 

  

Alessandro Praticò: Genauso muss es sein. Aber es ist natürlich auch ein schwieriges Unterfangen, da die richtige Balance zu finden, denn normalerweise sollte der Liedbegleiter künstlerisch immer im Hintergrund des Sängers stehen. 

  

Es ist grundsätzlich die Aufgabe des Liedbegleiters mehr darauf zu achten, was der Sänger macht und wie er ein Lied gestaltet. Es gilt da eine perfekte Symbiose zu finden. In meinem Fall ist es so, dass ich in der Sekunde weiß, was der Sänger im nächsten Schritt machen will. 

 

Ich bin so nah dran am Interpreten und verliere ihn in keinem Moment des Gestaltens, dass ich eben dennoch mein eigenes Ding machen kann. 

 

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Operaversum: Und genau das scheint mir aber auch die viel höhere Kunst an der Art Deiner Liedbegleitung zu sein. Dass Du Dich eben nicht "passiv" zurückgenommen hast, hat eine unglaubliche Energie und Lebendigkeit im Saal der Hamburgischen Staatsoper erzeugt. Und diese positive Spannung ging letztendlich von Euch beiden aus und hat zu einer gleichberechtigten musikalischen Qualität beigetragen. 

   

Alessandro Praticò: Ganz wichtig ist tatsächlich der musikalische Ausdruck, das, was ich über ein Stück sagen, das, was ich ins Publikum transportieren will. Und das kannst Du aus jeder Partitur, aus jedem Takt und in jedem Moment herausfiltern! 

  

Operaversum: Aber dann bist Du doch der perfekte Liedbegleiter der Gegenwart und Zukunft!  

  

Alessandro Praticò: Das hoffe ich sehr, denn schließlich brauchen wir den lebendigen Ausdruck in der Musik, insbesondere im Liedgesang. Für mich gilt, perspektivische Ansätze zu finden, um Menschen jeglicher Couleur für dieses Genre zu begeistern. 

  

Operaversum: Da stimme ich Dir absolut zu. Man hat ja auch bei Deiner Interpretation von Liszts "Pace non trovo" sofort gespürt, wie leidenschaftlich und sensibel zugleich Du mit einer Intimität und Persönlichkeit am Gestalten warst. Es hat mich schier umgehauen, wie Du ein ganzes Leben, ein ganzes Drama in musikalischer Form abgebildet hast 

  

Dabei frage ich mich immer wieder, wie wohl ein Pianist seine Gefühle über sein Instrument transportieren kann. Wie machst Du das? 

  

Alessandro Praticò: Da muss es in einem selbst erst "Klick" machen, um zu verstehen, dass man sich für seine eigene Interpretation nicht zu strikt an anderen Aufnahmen orientiert. 

 

Denn genau der Ansatz kann enorm hemmen. Insofern ist es wichtig, sich von anderen Aufnahmen, sprich Interpretationen freizumachen und auf der kompositorischen Quelle seinen eigenen, höchst individuellen Weg zu finden. Deshalb mache ich gerne mein eigenes Ding und muss auch keine Angst haben, dass da irgendetwas schief gehen könnte. 

  

Schließlich ist meine Technik zu 100 Prozent wasserdicht. Man könnte sogar auf den Gedanken kommen, dass die Rubati, die ich beim Liederabend gespielt habe, just in der Sekunde von mir gefühlt waren. 

  

Aber tatsächlich ist es so, dass ich den Text von Petrarcas Sonette so verinnerlicht habe, dass man die daraus entspringende Dramatik mit seinen eigenen Gefühlen unterfüttert, technisch perfekt auf den Punkt bringen kann. 

   

Operaversum: Bedeutet das, Du bist, während Du über Deine wasserdichte Technik hinaus gestaltest, total frei, obgleich Du natürlich exakt auf den Punkt ganz dicht an der Partitur dran bist? 

  

Hast Du denn keine Vorbilder, an denen Du Dich orientierst?  

  

Alessandro Praticò: Doch natürlich. Marta Argerich! Von dieser Künstlerin habe ich gelernt zu verstehen, dass jede Stimme zählt. Sie ist es auch, die niemanden kopiert, ihre eigene Interpretationswelt erschafft. Genau aus dem Grund ist sie schließlich auch Marta Argerich geworden. 

  

Operaversum: Und was macht Dich als Künstler aus, lieber Alessandro? 

  

Alessandro Praticò: Ich bin ein neugieriger Mensch, immer auf der Suche nach dem tieferen Sinn, denn das macht in der Kunst einen großen Unterschied. Und weil ich neugierig bin, treibt es mich an, Dinge zu verändern, anders zu machen, Neues auszuprobieren, mich dabei neu zu erfinden und stets an meiner Weiterentwicklung zu arbeiten, ohne dabei ein großes Ego zu kultivieren. 

  

Tatsächlich bin ich ein sehr geerdeter, bodenständiger Mensch, der sich auf seinem künstlerischen Weg, jede Etappe aus eigener Kraft und aus freiem Willen erarbeitet hat. 

 

Operaversum: Das klingt nach einer erfolgversprechenden Herangehensweise, auch insofern, als dass die Motivation zwar ein erster Treiber für eine Karriere, aber kein dauerhafter Faktor für Durchhaltevermögen sein kann. 

  

Die Motivation an sich lässt schnell nach, während die Neugier dich immer wieder voran- und antreibt und dich letztendlich auf deinem Weg nach vorne bringt! 

  

Neugier ist der Schlüssel für alles kreative Tun. Und das hat auch Deinen Auftritt an der Hamburgischen Staatsoper so individuell, so einzigartig gemacht. Glaubst Du denn, dass Dein Ansatz Liederabende anzumoderieren, Schule machen wird?  

   

Alessandro Praticò: Das hoffe ich doch sehr! Vor allem fände ich es schön, wenn Liederabende anmoderiert würden, damit sich das Publikum nicht mehr so sehr auf die Texte konzentrieren muss, was oftmals sowieso nicht einfach ist, da es sich um Gedichte aus einer völlig anderen Epoche handelt. Selbst ich habe zwei Monate gebraucht, um Liszts Petrarca Sonette inhaltlich durchzuholen. 

  

Wie soll man dann von einem Publikum verlangen können, dass ein Textverständnis innerhalb von wenigen Minuten entsteht. Ich persönlich empfinde es bereichernd, einem Publikum die Liedtexte zu umreißen, damit die Musik am Ende besser verstanden werden kann. Denn dann werden Liederabende auch längst nicht mehr so langatmig erscheinen. 

    

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Operaversum: Letztendlich würde eine solche Herangehensweise einem Liederabend die Steifheit nehmen. Aber was meinst Du, braucht es, damit die klassische Musikbranche grundsätzlich überleben kann? 

  

Viele behaupten immer, Bildung sei der Schlüssel zur klassischen Musik. Doch meiner Meinung nach kann Bildung allein weder die Leidenschaft entfachen noch Begehrlichkeit für dieses Musikgenre wecken! 

   

Alessandro Praticò: Ich denke, das, was uns der Kultur näherbringt, ist die Menschlichkeit. Und das sehe ich auch als meine Mission, sie so menschlich wie möglich zu verkörpern. Denn ist es nicht so, dass viele sich nicht mit der Kultur auseinandersetzen, geschweige denn in ein klassisches Konzert trauen, weil ihnen die Kunst zu hoch und unerreichbar scheint. 

  

Doch wir, die Musiker, die diese Kunst vermitteln, sind ja selbst ganz normale Menschen, die abends in einem Club abhängen und so wie ich beispielsweise Techno hören. Immer wieder passiert es mir, dass Freunde ganz erstaunt sind, wenn sie dann erfahren, dass ich als Techno-Fan, eine berufliche Laufbahn als Konzertpianist eingeschlagen habe. 

  

Vielleicht liegt der Fehler aber auch darin, dass man uns als Künstler auf ein viel zu hohes Podest stellt. 

  

Operaversum: Ich finde es nicht schlimm, Euch auf ein Podest zu stellen Schließlich leistet ihr für die Musik überdurchschnittlich viel, arbeitet unerbittlich hart an Eurer musikalischen Entwicklung, was vielen Menschen, glaube ich, überhaupt nicht bewusst ist. Es scheint etwas Gott Gegebenes zu sein, als Opernsänger oder Pianist reüssieren zu können. 

  

Alessandro Praticò: Und dabei hört das Üben nie auf! 

   

Operaversum: Ist es nicht so, dass Du immer wieder von Null anfängst, wenn Du etwas einstudierst? 

  

Alessandro Praticò: Tatsächlich ist das so. Und es ist nicht einfach. Deshalb ist es als Musiker wichtig, immer neugierig zu bleiben und vor allem an seinem Lebensziel dranzubleiben. 

 

Für mich ist das meine Kreativität, die ich stetig weiterentwickeln will. Nur kann man diese Haltung nicht lernen, sie kommt ganz tief aus einem selbst. Aber das  ich für die Musik brenne, ist kein Einzelfall. 

 

Von der Sorte Mensch, die sich mit Leidenschaft und Begeisterung ihrer künstlerischen Verantwortung annehmen, gibt es sehr viele. Und egal, ob ich nun Lisette Oropesa am Klavier begleite oder irgendeinen anderen Künstler, ich gebe immer alles. 

 

Denn es ist nicht das Konzert und es sind nicht die Künstler, die mich besser machen oder auf das nächste Level heben, sondern es ist der Grund, warum ich musiziere. 

 

Durch meine berufliche Bodenhaftung bringe ich eine Konstante in mein musikalisches Schaffen, denn ich mache wirklich keinen Unterschied zwischen den jeweiligen Konzerten, egal mit wem ich zusammenarbeite und wie relevant der Auftritt ist. 

 

Denn dann würde ich mich doch prostituieren. Der Punkt ist doch auch der, dass ich mich mit jedem Konzert, dass ich sowohl mit Hochschulsängern, Chorsängern und anderen Künstlern gestalte, mein Spiel weiter perfektionieren kann, sodass, wenn ich dann mit Lisette Oropesa auf der Bühne stehe, noch viel besser vorbereitet bin. 

 

Ich gebe immer 100 Prozent, no matter what! Und diese 100 Prozent verbessern sich eben auch mit jedem Auftritt. 

    

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Operaversum: Das klingt sehr plausibel.  Abschließend gefragt, lieber Alessandro: Was macht für Dich die Magie der klassischen Musik aus?  

  

Alessandro Praticò: Das Schöne und eben auch Wahrhafte an der klassischen Musik ist, dass sie von Menschen komponiert wurde, die ein ganz normales Leben geführt und all ihre Gefühle in ihre Werke gelegt haben, was kein einfaches Unterfangen ist. Aber weil wir in der Musik immerzu von Gefühlen sprechen, Gefühle, die noch dazu zeitlos sind, ist kein Werk, auch wenn es aus einer anderen Epoche stammt, sinnlos. 

 

Und das macht für mich Teil der Magie aus. Vielleicht auch deshalb sollten wir die klassische Musik nicht auf ein so hohes und vermeintlich unerreichbares Podest stellen. Denn wie schon angedeutet, geht es in ihr um Emotionen und die Grundbedürfnisse des Menschseins. 

 

Und all das spricht zu uns über die klassische Musik, die jeder hören darf, kann und soll. Und was noch viel beeindruckender ist; sie hat sich allein durch ihre Interpreten in den letzten 50 Jahren enorm weiterentwickelt, denn sie ist längst nicht mehr so steif, lässt mehr Eigeninterpretation und vor allem Gefühle zu. Wir werden und dürfen als Künstler mit ihr vulnerabler werden. Und das finde ich magisch und wunderschön. 

 

Operaversum: Lieber Alessandro, das ist für mich ein ganz neuer Blickwinkel auf das Faszinosum "Klassische Musik". Ich danke Dir herzlich für diesen inspirierenden Austausch und wünsche Dir Toi, toi, toi für alles Bevorstehende. 

 

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