Im Gespräch mit Intendant Ulrich Lenz: "Die Oper geht durch´s Herz in den Kopf!"

30. Juni 2025

Rubrik Interviews

©Marija Kanizaj

Ein Gespräch mit Ulrich Lenz, dem Intendanten der Oper Graz, ist eine Einladung, das Musiktheater neu zu denken – jenseits von Konventionen, Klischees und längst ausgetretenen Repertoirepfaden. Mit großer Kenntnis, feiner Beobachtung und spürbarer Leidenschaft spricht er über die Operette als eine Kunstform, die mehr ist als bloße Unterhaltung: eine Bühne für das Menschliche, das Widersprüchliche, das Berührende.

 

Was im ersten Moment leicht und verspielt erscheinen mag, entpuppt sich in seiner Betrachtung als vielschichtig, gesellschaftlich reflektiert und oft überraschend zeitgenössisch. Lenz plädiert für ein Musiktheater, das sich nicht scheut, emotional zu sein und zugleich mit klarem Bewusstsein für Kontext, Geschichte und Gegenwart erzählt wird. Dabei zeigt sich: Operette ist nicht nur lebendig, sie ist hochaktuell – wenn man sie ernst nimmt.

 

Dieses Gespräch öffnet den Blick auf ein Genre, das oft unterschätzt wird und das doch voller künstlerischer Kraft steckt. Es wirft Fragen auf, erzählt von Visionen und bringt jene Leidenschaft zum Leuchten, die es braucht, um Theater heute relevant zu gestalten.

 

Operaversum: Herr Lenz, wie wird die Operette heute eigentlich vom Publikum wahrgenommen? Und wie muss man sie auf die Bühne bringen, damit ihre Faszination wirklich zündet?

 

Ulrich Lenz: Man muss bei "Schön ist die Welt" von Franz Lehár zunächst sagen, dass es kein Titel von großer Allgemeinbekanntheit ist – nicht zu vergleichen mit "Die Fledermaus" oder "Die Csárdásfürstin". Und doch ist es ein ganz wunderbares Werk, das sehr viel mehr Beachtung verdient hätte.

 

Operaversum: Ich muss gestehen: Ich habe das Stück bislang nie in seiner Gänze gehört, sondern lediglich in der Filmfassung mit Rudolf Schock erlebt. Allerdings beschränkt sich diese Version ja vor allem auf die Hauptarien, die bekannten musikalischen Höhepunkte.

 

Umso überraschter war ich, als ich gestern in der Aufführung im zweiten Akt auf eine musikalisch hochdramatische, fast schon opernhafte Klangwelt gestoßen bin. Das wirft für mich die Frage auf: Warum sieht man solche Operetten so selten auf der Bühne? Liegt es womöglich daran, dass sich nicht immer die ideale Besetzung für dieses anspruchsvolle Genre findet?

 

Ulrich Lenz: Nein, tatsächlich liegt das Problem weniger in der Besetzung – sondern schlicht am Titel. Das Publikum entscheidet in der Regel nach Bekanntheit. Ist der Titel geläufig, ist die Hemmschwelle gering, sich zu einem Opernbesuch zu entscheiden. Ist er unbekannt, heißt es oft:

 

„Kenne ich nicht – muss ich also auch nicht sehen.“ Und das ist ausgesprochen schade. Denn die Menschen, die sich dennoch auf solche Werke einlassen, verlassen das Theater meist begeistert.

 

Natürlich kann man mit Werbung arbeiten und sagen: „Ein großartiges Stück, mit einem packenden Mittelakt, angesiedelt in einer eindrucksvollen Berglandschaft, von Lehár, den Sie doch kennen!“ Aber wenn der Titel keine Resonanz erzeugt, bleibt ein Teil des Publikums dennoch fern. Und das finde ich tatsächlich tragisch.

 

Ich lasse jedenfalls nicht nach, für diese Stücke zu werben, dafür zu kämpfen, dass sie ihren Platz im Repertoire behalten. Denn ich halte es für bedenklich, wenn wir uns immer nur auf das verlassen, was ohnehin bekannt ist. Natürlich spielen wir auch Verdi und Puccini. Aber die Vielfalt endet ja nicht bei diesen Komponisten. Es gibt so viel zu entdecken, auch – und gerade – in der Operette.

 

Operaversum: Das sind ja schließlich auch die Renner im Opernrepertoire!

 

Ulrich Lenz: Ja! Aber eben nur die Renner zu spielen, greift auf Dauer zu kurz. Gerade im Bereich der Operette ist das bekannte Repertoire erschreckend klein. Dabei gibt es so viele großartige, mitreißende Stücke, die nur darauf warten, wiederentdeckt zu werden. Und es hat ja durchaus immer wieder funktioniert, das Repertoire gerade in der Operette zu erweitern.

 

Vielleicht wissen Sie, dass ich zuvor zehn Jahre lang Chefdramaturg an der Komischen Oper Berlin war. Von dort ist damals so etwas wie eine kleine Operetten-Renaissance ausgegangen. Wir haben zahlreiche Werke aus der Vergessenheit geholt, die inzwischen fest ins Repertoire zurückgefunden haben.

 

Erst kürzlich, am vergangenen Samstag, war ich in einer Neuinszenierung von "Ball im Savoy" an der Staatsoperette Dresden. Dieses Stück haben wir bereits 2013 an der Komischen Oper in Berlin herausgebracht, und heute ist es wieder auf vielen Spielplänen zu finden. Kein Wunder: Es ist eine der besten Operetten, die je geschrieben wurden.

 

Glauben Sie mir, gerade in der Operette gibt es noch so viel zu entdecken, darunter Werke, die frech sind, subversiv, mitreißend erzählt, geistreich, unterhaltsam, aber dabei niemals oberflächlich. Es sind Stücke, die es wirklich verdienen, wieder gehört und gesehen zu werden. Und ich werde nicht müde, genau diese Werke auf die Bühne zu bringen.

 

Operaversum: Das heißt, an der Oper Graz darf man auch künftig regelmäßig mit Operette im Repertoire rechnen?

 

Ulrich Lenz: Unbedingt! Das gehört für mich ganz selbstverständlich dazu. In der vergangenen Spielzeit haben wir zum Beispiel "Venus in Seide", ein ganz wunderbares Werk von Robert Stolz, ausgegraben. In dieser Saison folgt nun "Schön ist die Welt". Und für die kommende Spielzeit steht Arizona Lady" auf dem Programm, die letzte Operette von Emmerich Kálmán, die posthum uraufgeführt wurde.

 

Operaversum: Arizona Lady, der Titel sagt mir tatsächlich gar nichts!

  

Ulrich Lenz: Das müssen Sie auch gar nicht, denn diese Operette wurde in den vergangenen fünfzig Jahren praktisch überhaupt nicht gespielt. Leider!

 

Dabei ist es eine herrliche Western-Operette, die wirklich im Wilden Westen spielt – und zwar mit Cowboys, Revolvern und allem, was dazugehört. Und: Die titelgebende "Arizona Lady" ist nicht etwa eine singende Diva, sondern ein Rennpferd! Um dieses Pferd dreht sich die gesamte Handlung. Ich freue mich jetzt schon sehr auf diese Produktion.

 

©Marija Kanizaj

Operaversum: Was glauben Sie, wie kann man die Operette heute wieder populärer machen? Braucht es vielleicht große Künstlernamen, um die Menschen zurück in die Operette zu holen?

 

Ulrich Lenz: Nun ja, große Namen helfen natürlich dabei. Und ich glaube, auch wenn das vielleicht banal klingen mag,  es muss einfach eine gute Show sein.


Die Operette wurde lange Zeit ein wenig stiefmütterlich behandelt. Viele Regisseurinnen und Regisseure wussten nicht so recht, wie sie mit dem Genre umgehen sollten. Oft landete man dann in einem biederen Heimatfilm-Stil à la 1950er Jahre, in dem die heile Welt thematisiert wurde.

 

Oder aber man versuchte es mit Dekonstruktion, was nicht selten darin endete, dass man das Stück letztlich zerstörte. Denn wenn man Operette nur als albern, blödsinnig oder belanglos betrachtet, wird man ihr schlicht nicht gerecht.

 

Dabei lebt die Operette von einer ganz besonderen Spannung, von einer Art produktiver Schizophrenie. Sie ist auf der Oberfläche heiter, verspielt und unterhaltsam, doch darunter brodelt es. Da liegt viel Subtext, vieles zwischen den Zeilen, was äußerst spannend ist.

 

Gerade die Operette des frühen 20. Jahrhunderts hat viel von den gesellschaftlichen und politischen Strömungen ihrer Zeit aufgenommen und feinfühlig reflektiert. Nicht mit dem Holzhammer, nicht plakativ, sondern subtil.


Es geht da um das neue Frauenbild, um freie Liebe, um Sexualität. Und all das ist in diesen Werken spürbar, wenn man genau hinhört und hinschaut.

 

Operaversum: Das konnte man gestern Abend in der sehr elegant umgesetzten Operette von Lehár spüren. Besonders gut gefallen hat mir die Revue-Einlage. Was für eine Show!

 

Ulrich Lenz: Genau das spiegelt den Charakter das Stücks wider. Das ist das Original.

 

Operaversum: Und tatsächlich ist die Operette eine faszinierende Welt, in die man da eintaucht und eintauchen kann. Hinzu kommt, dass die Musik alles andere als simpel ist. Vielmehr ist sie anspruchsvoll und komplex, sowohl für die Künstler auf der Bühne als auch für das Publikum.

 

Besonders beeindruckt hat mich übrigens die Szene im zweiten Akt, als die Protagonisten mitten durchs Parkett gegangen sind. So nah bekommt man Operngesang selten zu spüren!

 

Ulrich Lenz: Unser Parkett ist natürlich ideal für solche Einlagen, weil es diesen Mittelgang gibt. Den kann man wunderbar nutzen, so dass die Sängerinnen und Sänger sich mitten durchs Publikum bewegen können und dadurch unmittelbar erlebbar werden.


Wenn es diesen Gang nicht gäbe, wäre so eine Szene nur schwer umzusetzen. Aber ich finde genau solche Momente großartig, denn in der Operette geht es ja immer auch um Balance: Wann wird es ernst? Wann ist ein Augenzwinkern im Spiel? Diese feine Gratwanderung macht doch den Reiz aus.

 

Und wenn die Darstellerinnen und Darsteller dann im Parkett stehen und über ihre Bergwanderung sprechen, entsteht sogar noch eine doppelte Perspektive der Nähe auf der einen Seite und ein Publikum, das mittendrin sitzt. Andererseits bleibt dennoch eine gewisse Distanz, denn allen ist klar: Wir sind im Theater.


Es gibt keine vierte Wand wie im Film oder Fernsehen. Alles ist Illusion, aber eben eine durchlässige Illusion. Die Grenzen zwischen Bühne und Zuschauerraum verschwimmen. Und wenn dann plötzlich der Vorhang aufgeht und eine naturalistische Berglandschaft sichtbar wird – dann wirkt es so, als stünden die Alpen mitten im Opernhaus Graz. In so eine Inszenierung kann man sich tatsächlich hineinträumen.

 

Operaversum: Da stimme ich Ihnen zu. Die Inszenierung war ein Traum. Gibt es denn heute auch wieder Regisseurinnen und Regisseure, die mit echter Begeisterung an die Operette herangehen?

 

Ulrich Lenz: Unbedingt. In den letzten zehn, fünfzehn Jahren hat sich da enorm viel getan. Es ist wieder eine echte Liebe zur Operette entstanden – und der Wille, sie ernst zu nehmen.


Man spürt heute deutlich weniger den Drang, alles ironisch zu brechen oder zu relativieren, um zu zeigen: „Das ist doch alles nur heile Welt.“ Diese Haltung hat sich verändert. Heute begegnet man dem Genre wieder mit Respekt. Und gleichzeitig mit einem Augenzwinkern. Denn wie gesagt:

 

Die Operette ist schizophren im besten Sinne. Sie ist Illusion und Kommentar zugleich. Sie lässt uns träumen und flüstert uns dabei ins Ohr, dass das Leben auch anders sein kann.

 

Operaversum: Absolut!

 

Ulrich Lenz: Und daraus hat sich ein neuer Regiestil entwickelt, der dem Genre endlich gerecht wird.

 

Operaversum: Was halten Sie denn generell vom sogenannten „modernen Regietheater“? Das Publikum kritisiert ja oft, dass zeitgenössische Inszenierungen schwer zugänglich oder gar unverständlich sind. Man hat manchmal den Eindruck, dass Regie und Werk kaum noch zusammenfinden.

 

Ulrich Lenz: Ehrlich gesagt, ich mag den Begriff „Regietheater“ nicht besonders.

 

Operaversum: Wie würden Sie es denn nennen?

 

Ulrich Lenz: Ich würde schlicht und ergreifend sagen: Es gibt gute und schlechte Inszenierungen. Häufig macht sich die Diskussion ja an Äußerlichkeiten fest, insbesondere an den Kostümen. Wenn jemand fragt: „Ist die Inszenierung modern oder klassisch?“, dann frage ich zurück: „Was meinen Sie mit modern oder klassisch?“


Oft heißt es dann: „So wie es vom Komponisten und Librettisten gemeint war.“ Aber was genau heißt das denn? Dass es so aussieht wie bei der Uraufführung? Dann müsste eine Barockoper wie Händels "Alcina" in Rokoko-Kostümen stattfinden und nicht in antiken Tuniken. Wo also beginnt historische Treue?

 

Ich habe schon Inszenierungen in modernen Kostümen gesehen, die erschreckend konservativ erzählt waren. Und ich habe Produktionen in historischen Kostümen erlebt, die ich als ausgesprochen modern empfunden habe, gerade wegen der Personenführung, der erzählerischen Handschrift und der inneren Dynamik.

 

Die Oper ist schließlich kein Museum. Sie ist kein Rembrandt-Gemälde, das man betrachtet und das unveränderlich bleibt. Theater entsteht nur im Moment der Aufführung. Was ich dort vorfinde, ist ein Notenpaket und ein Libretto, die beide unbelebt sind, solange sie in der Schublade liegen. Erst mit der Interpretation, der musikalischen und szenischen Umsetzung wird das Werk des Komponisten zum Leben erweckt.

 

Ein Gemälde beispielsweise braucht keine Interpretation. Eine Oper schon. Jede Aufführung ist eine Interpretation,  selbst dann, wenn jemand behauptet, er halte sich streng an die „Werktreue“. Das ist ein Trugschluss.

 

Operaversum: Das ist letztlich auch immer eine subjektive Sichtweise!

 

Ulrich Lenz: Natürlich. Zeiten ändern sich, Hörgewohnheiten verändern sich. Wenn wir heute eine historische Aufnahme der Brandenburgischen Konzerte von Bachs Ensemble in Köthen hören könnten, wären viele wahrscheinlich erschrocken, wie das damals geklungen hat.


Unsere Ohren ticken heute anders. Es gibt kein absolut richtig oder falsch. Und wenn ich nun ein Musiktheaterwerk mit Handlung, Figuren und den daraus entstehenden Konflikten aufführe, dann will ich das für ein heutiges Publikum erzählen. Ich möchte nicht die Menschen von 1781 erreichen, die zur Uraufführung von "Idomeneo" gekommen sind, denn die leben schließlich nicht mehr. Ich will die Menschen von Heute berühren.

 

Das ist im Grunde wie beim Märchenerzählen: Ich erzähle meinem Kind dieselbe Geschichte immer wieder, aber immer ein wenig anders und immer auch aus dem Heute heraus. Und so entstehen dann die unterschiedlichen Formen von Theater, die manche als „Regietheater“ bezeichnen. Aber letztlich ist es einfach Interpretation. Manchmal gelingt sie besser, manchmal weniger gut.

 

Manchmal schießt man über das Ziel hinaus, manchmal wird es unverständlich für ein breites Publikum. Das ist schade, aber das eben gehört auch dazu.

 

Operaversum: Solche enttäuschenden Erlebnisse kenne ich. Da steigt man dann relativ schnell aus.

 

Ulrich Lenz: Natürlich. Aber ich finde, man sollte den Regisseurinnen und Regisseuren zumindest zugestehen, dass sie sich Gedanken gemacht haben, dass sie das Stück ernst genommen haben, dass sie es auf ihre Weise erzählen wollten.
Die meisten machen das ja nicht aus Eitelkeit oder Selbstinszenierung, sondern weil sie etwas über das Werk zu sagen haben. Und manchmal gelingt das, manchmal eben nicht.

 

Was ich hingegen viel schwieriger finde, sind Produktionen, bei denen sich offenbar niemand Gedanken gemacht hat und bei denen einfach nach Schema F gearbeitet wurde.


Ich habe viel mehr Respekt vor einem mutigen Versuch, der vielleicht scheitert, als vor einer routinierten, lieblosen Reproduktion.

 

Denn zur Kunst gehört auch das Scheitern dazu. Und das Schöne an unserem Metier ist doch: Ich kann ein Werk immer wieder neu erzählen. Ich kann durch die Welt reisen und "La Traviata" 500 Mal sehen. Und jedes Mal ist es ein neues Erlebnis. Und genau das macht das Musiktheater doch so lebendig und aufregend.

 

©Marija Kanizaj

Operaversum: Das ist ein spannendes Thema, aber auch ein weites Feld. Ich bin beispielsweise auch schon mal gefragt worden, warum ich mir eine bestimmte Oper zehn oder zwanzig Mal anschaue. Viele Menschen verstehen das einfach nicht und meinen, das es reichen müsste, wenn man sich ein Werk auch nur einmal angeschaut hätte.

 

Besonders faszinierend war mein erster "Parsifal in München vor ein paar Jahren, der mich damals völlig unberührt gelassen hat. Ich muss gestehen, ich habe ihn schlichtweg nicht verstanden. Aber dann kam dieser großartige „Parsifal“ in Wien, inszeniert von Kirill Serebrenikov, und plötzlich war das Werk für mich ein Augenöffner!

 

Ulrich Lenz: Das ist ein sehr schönes Beispiel. Spannend ist in diesem Zusammenhang auch, dass unsere Bereitschaft, uns auf eine neue Erzählweise einzulassen, stark vom jeweiligen Werk abhängt.


Es gibt in der Oper einen gewissen „Kanon“. Ich nenne ihn manchmal augenzwinkernd den „Engelberg-Kanon“. Bei diesen Werken ist das Publikum oft weniger offen für Neuinterpretationen. Da herrscht eine klare Erwartungshaltung, das ein Werk auf eine ganz bestimmte Art und Weise umgesetzt werden muss und nicht von der "Norm" abweichen darf. 

 

Bei weniger bekannten Stücken – sagen wir etwa bei "Schwanda, der Dudelsackpfeifer" von Jaromír Weinberger, hat man viel mehr gestalterische Freiheit. Da gibt es keine festgefahrenen Vorstellungen. Wenn Bild, Szene und Konzept gut zusammengehen, sagt auch niemand: „Das ist mir zu modern.“ Die Menschen lassen sich dann einfach mitnehmen.

 

Interessanterweise ist Wagner hier eine Ausnahme. Obwohl seine Werke zweifellos Teil des Kanons sind, bringt man ihm gegenüber viel mehr Offenheit für Interpretation mit. Vielleicht, weil Bayreuth seit jeher vorlebt, dass man dieselben Werke immer wieder neu denken und inszenieren darf. Dort ist das ständige Neuerzählen quasi institutionalisiert.

 

Operaversum: Also so etwas wie: Der stete Tropfen höhlt den Stein?

 

Ulrich Lenz: Vielleicht. Wobei ich bezweifle, dass man bei einer Oper wie "La Traviata" je ein ähnliches Maß an Interpretationsakzeptanz erreichen wird. Bei Wagner wurde diese Herangehensweise von Anfang an gepflegt – auch durch den Meister selbst, der ja ausdrücklich wollte, dass seine Werke immer wieder neu interpretiert werden. Bei Verdi ist die Rezeptionsgeschichte eine andere.

 

Operaversum: Herr Lenz, können Sie denn verstehen, dass Opernsänger einer Inszenierung manchmal eher skeptisch gegenüberstehen?

 

Ulrich Lenz: Dieses Bild wird oft gezeichnet – aber ich halte es in dieser Allgemeinheit für ein Klischee. Ich bin jetzt fast dreißig Jahre im Opernbetrieb, und ich habe das so eigentlich nie erlebt.


Ein Regisseur kann gar nicht gegen einen Sänger arbeiten. Das funktioniert schlichtweg nicht. Es liegt ja im ureigenen Interesse der Regie, dass der Sänger sich wohlfühlt, dass er mit dem Konzept mitgeht. Wenn das nicht gelingt, steht da jemand auf der Bühne, der sich sichtbar fremd fühlt. Genau das spürt dann das Publikum sofort.

 

Das Ziel jeder Inszenierung muss doch sein, dass Musik, Darstellung und szenische Erzählung eine Einheit bilden. Und das funktioniert nur, wenn die Sänger abgeholt werden und sich mit der Erzählweise identifizieren können.

 

Natürlich kommt es vor, dass ein Konzept sehr radikal ist und dass ein Sänger das manchmal nicht mittragen kann. In solchen Fällen entscheidet man dann schlussendlich, ob es nicht vielleicht besser wäre, jemand anderen für diese Produktion zu besetzen. Aber dass man jemanden zwingt, gegen seine Überzeugung zu spielen, das ist meines Erachtens die Ausnahme.

 

Im Gegenteil: Ich erlebe die meisten Sänger als ungemein offen und neugierig. Viele brennen darauf, neue Wege zu gehen, sich künstlerisch weiterzuentwickeln und sich als Darsteller zu fordern.

 

Wir sprechen ja heute auch gar nicht mehr nur von „Sängern“, sondern von "Sängerdarstellern". Die Zeiten, in denen man einfach nur schön sang, sind vorbei. Heute wollen Künstler mehr und mehr Rollen verkörpern, mitgestalten und interpretieren. Und sie erwarten auch Input von der Regie, denn sie wollen herausgefordert werden.

 

Operaversum: Das stimmt. Man merkt, dass Opernsänger zunehmend als Schauspieler gefragt sind. Aber sagen Sie, Herr Lenz, was war denn Ihr bisher schönstes Bühnenerlebnis an der Oper Graz?

 

Ulrich Lenz: Das ist gar nicht so leicht zu beantworten, denn diese Spielzeit war in vielerlei Hinsicht außergewöhnlich. Ganz besonders bewegt hat mich unsere Produktion von "Les Troyens" von Hector Berlioz, ein Werk, das leider viel zu selten gespielt wird und in Graz zuvor noch nie zur Aufführung gekommen war.

 

Wir haben diese Oper anlässlich unseres 125-jährigen Jubiläums auf den Spielplan gesetzt, denn ein großer Anlass verlangt nach einem großen Werk. Und ich finde, das 125 Jahre ein ganz besonderer Moment ist.

 

Allein die Tatsache, dass wir ein solch monumentales Werk nahezu vollständig mit unserem eigenen Ensemble besetzen konnten, war schon etwas Einzigartiges. Nur für die äußerst anspruchsvolle Partie des hohen Tenors mussten wir einen Gast engagieren, da man so eine Spezialrolle nicht immer im Haus hat.

 

Musikalisch war es eine absolute Sternstunde. Unser Chefdirigent Vassilis Christopoulos, der ein leidenschaftlicher Liebhaber der französischen Musik ist, hat sich mit ganzer Hingabe in das Werk hineingestürzt. Und auch szenisch war es eine rundum gelungene Umsetzung, die von einer Regisseurin inszeniert wurde, die einst als Regieassistentin bei uns begonnen hat und heute eine gefragte Künstlerin ist.

 

Und ja, Les Troyens war für mich persönlich eine der Sternstunden meiner bisherigen Zeit als Intendant der Oper Graz.

 

©Marija Kanizaj

Operaversum: Herr Lenz, stellen wir uns einmal vor,  Sie treffen jemanden, der noch nie in der Oper war. Jemanden, der mit klassischer Musik bislang keinerlei Berührungspunkte hatte , vielleicht sogar mit einer gewissen Skepsis oder Distanz dem Genre gegenübersteht. Wie würden Sie diesem Menschen die Magie der Oper erklären? Wie würden Sie ihn zur Oper verführen?

 

Ulrich Lenz: Sie haben es eigentlich schon sehr schön angedeutet. Oper geht durchs Herz in den Kopf, während Schauspiel vielleicht eher den Weg vom Kopf ins Herz findet.


Das Faszinierende am Musiktheater ist die unmittelbare Emotionalität. Musik ist eine Sprache, die jenseits des Rationalen wirkt. Sie entzieht sich der Analyse, sie trifft einen direkt. Und dieser Zugang ist kaum kontrollierbar, kaum steuerbar. Die Wirkung der Musik kann man sich nur schwer entziehen.

 

Dennoch bleibt es dabei. Es geht im Kern um emotionales Verstehen.


Man kann sich Texte über menschliche Konflikte durchlesen, man kann sich ein Schauspiel anschauen, in dem Beziehungen, Entscheidungen und Gefühle verhandelt werden. Und man begreift das durchaus auch emotional. Aber was das Musiktheater vermag, ist noch einmal eine Steigerung.

 

Die Musik legt eine zusätzliche Bedeutungsebene über das Geschehen, sie interpretiert Gefühle, sie intensiviert sie. Und plötzlich verstehe ich auf einer Ebene, für die ich keine Worte mehr brauche, warum Menschen handeln, wie sie handeln.


Ich fühle, was in ihnen vorgeht. Genau das ist für mich der Zauber, der Kern der Oper.

 

Dieser Moment, wenn ich auf einmal das Gefühl habe, die Welt, den Menschen, den Kosmos ein Stück weit zu begreifen – und zwar nicht auf intellektueller Ebene, sondern tief emotional. Das sind für mich die größten, die eindrücklichsten Augenblicke im Musiktheater. Und sie lassen sich durch nichts ersetzen.

 

Das kann ein einziger Blick sein, ein Ton, ein musikalischer Bogen, ein gesungener Schmerz, der mich unmittelbar trifft. Ein Mensch auf der Bühne, der sich nicht nur stimmlich, sondern emotional öffnet. Diese Unmittelbarkeit, diese Offenheit, das ist es, was Oper für mich so faszinierend macht.

 

Operaversum: Das klingt nach einer sehr tiefen, auch menschlich berührenden Erfahrung. Aber wie nimmt man jemanden mit, der noch gar keine Vorstellung davon hat, was ihn in der Oper erwartet?

 

Ulrich Lenz: Ich würde dieser Person ganz schlicht sagen: Komm einfach mal mit. Schau es Dir an. Und – das ist ganz wichtig – Du musst es nicht gleich mögen.


Oper ist nichts Elitäres, sie ist für jeden da. Man darf sich einfach reinsetzen, zuhören, zuschauen, ganz ohne Erwartungsdruck. Vielleicht beginnt man mit einem kürzeren Stück, in kleineren Portionen. Das kann helfen, wenn man sich auf etwas Neues einlassen will.

 

Und wenn man merkt, das es doch nichts für einen ist, dann ist es auch vollkommen in Ordnung, in der Pause  das Haus zu verlassen. Niemand muss sich durch etwas hindurchquälen, das ihn nicht erreicht. Aber man sollte der Oper ruhig zwei- oder dreimal eine Chance geben und dabei ganz unterschiedliche Werke erleben.

 

Denn Oper ist ein weites Feld. Und vielleicht entdeckt man dabei etwas, das einen wirklich berührt. Und wenn nicht, ist das auch legitim. Zumindest hat man es dann aber versucht.

 

Ich denke, die Essenz von Musiktheater liegt genau darin: Es werden emotionale Geschichten erzählt, die musikalisch und szenisch umgesetzt werden, durch eine Kunstform, die zugleich artifiziell ist und doch tief menschlich. Man muss sich darauf und auf die Eigenheiten des Gesangs einlassen können, der eben nicht alltäglich ist. Aber genau diese Künstlichkeit schafft auch Raum für Wahrheit.

 

Operaversum: Und auch für eine Emotionalität, die wir so im Alltag kaum noch erleben. Ich habe oft das Gefühl, dass viele Menschen mit dieser Intensität nur schwer umgehen können. Vielleicht, weil sie etwas in ihnen auslöst, etwas, das sie gar nicht sehen oder fühlen wollen.

 

Ulrich Lenz: Das glaube ich auch. Aber zugleich bietet die Oper, gerade durch ihre Künstlichkeit,  auch eine gewisse Distanz. „Es ist ja nur Theater“, könnte man sagen. Und genau das ist das Schöne. Ich kann im Theater Dinge erleben, die ich im echten Leben vielleicht gar nicht erleben möchte oder könnte. Und dennoch lasse ich mich emotional darauf ein.

 

Das ist im besten Sinne kathartisch – ganz im Sinne der alten griechischen Tragödie. Ich erlebe einen Rausch, einen emotionalen Ausbruch und am Ende eine Form von Erleichterung.


Das Theater ist ein geschützter Raum, in dem ich Dinge fühlen darf, ohne selbst verletzt zu werden. Es bringt mich zum Nachdenken, zum Fühlen und manchmal auch zum Weinen. Aber es lässt mich nie gleichgültig zurück. Und das, finde ich, ist eine der schönsten Gaben, die die Oper uns machen kann.

 

Operaversum: Herzlichen Dank, Herr Lenz, für dieses ausführliche und inspirierende Gespräch. Ich wünsche Ihnen weiterhin viel Erfolg an der Oper Graz.

 

 

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