Vom Ruhm und Fall der Lydia Tár: Ein kritischer Film von Todd Field über eine Dirigentin in der Gegenwart

08. März 2023

Rubrik Print & Medien

©Focus Features

Eine Notenpartitur ist wie eine mathematische Gleichung, die erst zu etwas taugt, wenn sie durch die Emotionalität der Musik belebt wird. Und das wiederum vermag nur die Menschenhand, um genau zu sein, die Hand eines Dirigenten oder einer Dirigentin.

 

In seinem neuesten filmischen Coup zeichnet der US-amerikanische Filmregisseur Todd Field ein fiktives Portrait einer Frau, die sich als erste Chefdirigentin an der Berliner Philharmonie behaupten muss. Mehr kämpferisch als emphatisch, tendenziell verbissen und dabei noch kaltschnäuzig über Leichen gehend, versucht sich die Protagonistin Lydia Tár alias Cate Blanchett ihre Poleposition an der Spitze einer männerdominierten Branche zu erhalten.

 

Und genau das scheint kein so einfaches Unterfangen zu sein, zumal die Neider wie aaskreisende Geier in allen Schlüsselpositionen der klassischen Musikbranche auf den kleinsten Fehltritt des Ausnahmetalents warten. Da hilft der Stardirigentin wohl nichts anderes, als sich unangenehme Zeitgenossen mit eiskaltem Kalkül auf sichere Distanz zu halten oder diese sogar in letzter Instanz ganz aus dem Weg zu räumen.

 

Mit taktischer Raffinesse und unbeugsamer Härte schafft es Lydia Tár, sich dem zweiten Dirigenten der Berliner Philharmonie beruflich zu entledigen. Und auch der Umgang mit den Orchestermitgliedern erfreut sich selten eines wertschätzenden Tones. Am Taktstock regiert eine starre Diktatur, die demokratische Teilhabe in keinster Weise zulässt.

 

Mahlers 5. Sinfonie soll auf Tonträger verewigt werden - und das ganz und gar und ganz allein nach den kreativ-interpretatorischen Vorstellungen der Dirigentin.

 

©Focus Features

Todd zeichnet in seinem überaus detailverliebten Film ein Porträt einer musikalischen Koryphäe, die sich über alle Maßen für so ausnahmslos großartig hält, dass sie blind vor Selbstüberhöhung nicht mitbekommt, wie die subtilen Fäden der Intriganz langsam aber sicher so lange um sie herumgesponnen werden, bis dass sie von ihren vermeintlich engsten Vertrauten auf dem Höhepunkt ihrer schöpferischen Karriere brutal zu Fall gebracht wird - denn Hochmut kommt irgendwann vor den Fall!

 

Brisante Themen wie "Me-Too" reißt der Regisseur dabei genauso an wie die leidige Genderfrage, die insbesondere in der Musikbranche ein immer noch heiß geschmiedetes Eisen zu sein scheint. Eine Frau am Dirigentenpult und noch dazu in leitender Funktion. Wo gibt es denn so etwas?

 

Dass Lydia Tár selbstverständlich auch Fehler macht, ist so unumgänglich wie menschlich. Denn wäre sie eine perfekte, unfehlbare Kreatur von Gottes Gnaden, so würde der Film keinerlei Anlass zum Diskurs bieten. Er wäre langweilig, sinnlos und kaum zeitgemäß: Ein illusorisches Schmachtwerk für Träumer, die vielmehr an eine vollkommen idealisierte Musikwelt glaubten.

 

Stattdessen durchleuchtet der Filmemacher mit kritischem Blick die gegenwärtige Problematik, die es Dirigentinnen immer noch schwer macht, in leitender Funktion an den Opern- und Konzerthäusern dieser Welt Fuß zu fassen.

 

Multifacettiert tauchen wir ein in den durchgetakteten Alltag der Protagonistin, erleben ihre Härte während der Arbeit, ihre Unersättlichkeit, wenn es um die musikalische Perfektion in Formvollendung geht, und sehen uns gleichzeitig einer privaten Persönlichkeit gegenüber, die auch verletzbare Seiten in sich trägt, Ängste und Selbstzweifel hegt und von Unsicherheiten geplagt wird.

 

©Focus Features

Fast schon ruhelos streifen wir mit Lydia Tár durch ihren vollgepackten Alltag, der keinerlei entspannende Mußestunden außerhalb ihrer Berufung zu kennen scheint. Erkaltet erscheint das Liebesleben der Frau, die mit ihrer ersten Geigerin eine eheähnliche Beziehung führt, an der sie aber mehr vorbeilebt, als sie leidenschaftlich auszuleben.

 

Intim und herzerwärmend sind lediglich die zärtlichen Gedanken, die sich ausschließlich um die großen Gefühle zur Musik drehen und an denen uns Lydia Tár während des gesamten Handlungsstrangs in regelmäßigen Abständen teilhaben lässt. Das ist sehr aufschlussreich und gewährt auch dem weniger klassikaffinen Musikliebhaber tiefere Einblicke in das zuweilen unergründliche Mysterium der klassischen Musik.

 

Großartig geschauspielert erleben wir die australische Schauspielerin Cate Blanchett in einer traumhaften Charakterrolle. Dass die Australierin dramatischen Facettenreichtum besitzt, wissen wir spätestens seit ihrem fulminanten Filmdebüt in der Rolle als Elisabeth I. 

 

Als Lydia Tár spielt sie zwar keine Regentin, aber eine Dirigentin, die auf ihrem Podest wie auf einem Thron regiert und ungern davon heruntergestoßen werden will. Und das macht sie so überzeugend, dass man sich zwischen diesem zwiespältigen Charakter hin- und hergerissen fühlt. Will man Tár bedauern oder hasst man diese unerbittliche, machtbesessene, eiskalte Frau?

 

©Focus Features

An Blanchetts Seite brilliert auch die deutsche Schauspielerin Nina Hoss, die "Im Mädchen Rosemarie" zu einer der gefragtesten Charakterdarstellerinnen im deutschsprachigen Raum avanciert ist. Zwar hat sie als Lebensgefährtin der Dirigentin nicht viel zu sagen. Doch auch das Wenige, genau das, was man sich zwischen den unausgesprochenen Zeilen zusammenreimen kann, kommt einer Glanzleistung gleich.

 

Nina Hoss kann eben auch ohne viele Worte zu machen allein mit ihrer Gestik und Mimik überzeugen. 

 

Tár ist in jedem Fall, wenn nicht sogar ausschließlich, ein Film für Liebhaber der klassischen Musik, die noch tiefer hinter die Kulissen der Musikbranche blicken wollen, um zu verstehen, wie das Geschäft mit den Noten tatsächlich funktioniert. 

 

©Focus Features


Kommentare: 0