Schmerz, Lust, Verlust und LIebe: María de Buenos Aires am Grand Théâtre de Genève

12. Dezember 2023

Rubrik Oper

©Carole Parodi

"María unser von Buenos Aires...vergessen bist du unter allen Frauen", so endet die Tango-Operita von Ástor Piazzolla aus dem Jahr 1968. Am Grand Théâtre de Genève in ein visuelles Spektakel getaucht, begibt sich der Zuschauer auf eine illusorische Reise in die fremde, exotische Stadt des Tangos: Buenos Aires.

 

Im Mittelpunkt der temperamentvollen und doch so melancholischen Geschichte steht seine Protagonistin Maria, die aus Schmerzen geboren ein von Anfang an vergessener und verglühender Stern unter Menschen ist. In einem Vorort von Buenos Aires beginnt ihre ausweglose, aber sehr anrührende Geschichte.

 

Von Nicole Hacke

 

Doch Halt! Stopp! Eigentlich beginnt sie mit ihrem Tod, denn nur der Geist Marías schwebt durch die Vergangenheit und erzählt das Drama um ihr einsames und schmerzerfülltes Leben in der ruhelosen Stadt unter Huren und Zuhältern.

 

An einem mit Blumen geschmückten Sarg trauern wenige Hinterbliebene um die verstorbene María. Plötzlich öffnet sich der Sargdeckel und in einem roten Kleid, so provozierend wie seine Farbe, entsteigt grazil eine junge Frau mit biegsamem Körper, schlank und wunderschön.

 

Tänzelnd umrundet sie zuerst den Sarg und klettert dann flink ein mit Kerzen illuminiertes Kolumbarium hinauf, das sich über die gesamte Breite und Höhe der Bühne erstreckt.

 

Akrobatisch erklimmt sie, ohne gesichert zu sein, mühelos die hohe Mauer, klettert von einem Urnengrab zum nächsten und verschwindet nach geraumer Zeit in einem eigens für sie in die Wand eingelassenen Grab.

 

So beginnt die merkwürdige Geschichte einer Frau, die als Schatten ihrer selbst durch Raum und Zeit der Vergänglichkeit wandelt, nämlich als Geist.

 

©Carole Parodi

©Carole Parodi

Als Reflexion auf das Leben durchleuchten dabei mehrere Sprecherinnen auf der Bühne das Wesen der verblichenen Maria. Sie nehmen ihren Leidensweg aus ihren jeweiligen Perspektiven poetisch auseinander.

 

Tatsächlich strotzt das spanische Libretto von Horacio Ferrer nur so vor geheimnisvoll verklärter Lyrik, die stark philosophisch eingefärbte Züge offenlegt.

 

Der Schmerz spielt in dieser Tango-Operita eine ganz offensichtlich übergeordnete Rolle. Sich dem Schmerz hinzugeben, bedeutet sich dem Leben zu öffnen, so wie das Licht durch einen Riss hindurchstrahlt und dem Sinn des eigenen Seins so erst Substanz verleiht.

 

Während der Erzählstrom verebbend langsam abreißt, erscheint María, die Leibhaftige, auf der Bildfläche. Stolz und unnahbar wie ein Solitaire stellt sie sich mit ihrem Lied "Yo soy María" dem Publikum vor.

 

Ja, sie ist María, María Tango, María der Vorstadt, María Nacht, María fatale Leidenschaft, María der Liebe zu Buenos Aires.

 

Das ist sie, eine Frau, die, gefangen in ihrem Käfig der Marginalisation, Liebe sucht und sich dennoch nach Freiheit sehnt. Ein Widerspruch in sich, eine erneut schmerzhafte Spannung in einem unerfüllten Leben, in das Maria ungefragt hineingerissen wurde.

 

Piazzolla malt ein musikalisch eindrückliches Gemälde einer Frau und ihrer Stadt, die miteinander, aber auch ohneeinander nicht sein können. Heimatgefühl, Nationalstolz, Fernweh und Sehnsucht sind hierbei die Schlüssel zu einer in sich zerrissenen Gefühlswelt, in der alles sein soll, aber nicht alles sein kann.

 

©Carole Parodi

©Carole Parodi

©Carole Parodi

Musikalisch ist diese argentinische Oper eine großartige Hommage an den Tango. Lebendig, leidenschaftlich, rhythmisch pulsierend und melodisch durchzogen von süßer Melancholie: So herrlich entzückend, reizvoll, aber auch schwermütig kann Tangomusik sein. Sie ist und bleibt eine große Emotion, voller Sehnsucht, bedingungsloser Hingabe und leidenschaftlichem Stolz.

 

Nicht in der üblichen orchestralen Besetzung, sondern mit Streichern, Akkordeon, Klavier und Gitarre bestückt, kommt der Lokalkolorit dieser unverwechselbar einzigartigen Musik strahlend authentisch zum Ausdruck.

 

Und doch klingt Piazzollas Musik partiell sehr modern, sehr progressiv ohne aber den Ursprung, die argentinischen Wurzeln, zu verleugnen.

 

Komplementiert durch gekonnt akzentuierte Tanzeinlagen, erlebt das Publikum zusätzlich ein vollendetes Musiktheater, in dem sich die Musik mit den reizintensiven visuellen Komponenten ästhetisch verbindet.

 

Grandios ist der Tanz im sich drehenden Hula-Hoop-Reifen. Fast wird einem beim Zuschauen schwindelig bei all den unzähligen Umdrehungen, die das Tango-Paar eng umschlungen miteinander durchlebt.

 

Wie kann man sich bloß in einem Reifen mit einem Reifen um die eigene Achse drehen und dabei noch figürliche Akrobatik elegant und graziös an den Tag legen, sodass es aussieht, als würde die Welt in einem Zustand des ewigen Drehens stillstehen. 

 

Schwindel lass nach!

 

Traumhaft anzusehen ist auch die im letzten Bühnenbild omnipräsente Eisprinzessin auf Kufen, die, während Gesang, Musik und Erzählung zu einer Einheit verschmelzen, in ebenso schwindelerregend luftige Höhen gleitet - ebenfalls in einem Reifen, in dem sie kunstvoll akrobatische Verrenkungen macht.

 

©Carole Parodi

©Carole Parodi

Bleibt nur Maria, die von der Sopranistin Raquel Camarinha erotisch, verführerisch und unnahbar aufregend interpretiert wird. Ihr saturierter Sopran, der vollmundig, reif und weiblich klingt, ist von absolut emotionaler Vielschichtigkeit durchwirkt.

 

Ähnlich dem schwermütigen Fado, bei dem das Leid die musikalische Geschichte erzählt, präsentiert sich auch Raquel Camarinha mit gesanglicher Erzählkunst als leidvolles Wesen. Ihre zum Ausdruck gebrachten Schmerzen, die tief in der Seele verankert sind, bringt sie laserscharf an die Oberfläche, schüttet ihr ganzes Herz mit stimmlicher Versatilität über das Publikum aus und rührt mit ihrem melancholischen Pathos fast zu Tränen.

 

Eine Tango Operita, die man einfach gesehen haben muss, wenn man den argentinischen Tango und die Musik Ástor Piazzollas liebt.

 

 

Tango Operita / Komponist Ástor Piazzolla

 

Uraufführung: 8 May 1968 in Buenos Aires

 

Zum ersten Mal inszeniert am Grand Théâtre de Genève

 

Dauer: 1 Stunde 40 Minuten ohne Pause

Sprache: Spanisch

 

Interpreten: 

 

Dirigat: Facundo Agudin

Inszenierung: Daniele Finzi Pasca

Koreographie: María Bonzanigo

Chorleitung: Natacha Casagrande

María: Raquel Camarinha

Die Stimme eines Payador: Inés Cuello

El Duende: Melissa Vettore & Beatriz Sayad

Akrobaten und Schauspieler der Compagnia Finzi Pasca

Orchester der "Haute École de Musique de Genève begleitet von Tango Solisten

 

Auf ARTE TV vom 4. Dezember 2023 bis 3. Juni 2024


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