Verlockung Open Air: Klassische Musik auf die Picknick-Decke der Massen bringen

12. August 2022

Rubrik Oper

©Florian Arp / NDR / Klassik Open Air Hannover 2022

Laue Sommerabende, Mondschein und himmlische Musik an irgendeiner romantischen Spielstätte unterm sternenbesetzten Himmelszelt.

 

Wo, wenn nicht auf einem Open-Air-Konzert, kann man klassische Musik so entspannt, unkonventionell und emotionsgeladen erleben?

 

Während sich vielerorts die Festspielsaison immer noch in geschlossenen Auditorien großer Konzerthallen und erlauchten Musentempeln vor einem halbwegs elitären Publikum inszeniert, schießen parallel immer neuere und spektakuläre Freilufttheater allerorts wie Pilze aus dem Boden.

 

Ob beim Prater-Picknick in Wien oder beim Klassik Open Air in Hannover vor monumentaler Kulisse, die Versuchung, einem klassischen Open Air Event im Freien beizuwohnen, scheint aktuell einen deutlich höheren Stellenwert zu haben, als bei hitzewellenartigen Temperaturen den sonnigen Tag im abgedunkelten Saal eines Opernhauses zu verbringen.

 

Sechs Stunden Wagnermarathon auf harter Bestuhlung. Nur der eingefleischte Opernenthusiast verbietet sich stoisch jedwede Versuchung auf sommerliche Gelüste und Launen.

 

Alle anderen – und das scheint mittlerweile die Mehrheit der musiklustigen Bevölkerung zu sein - zieht es auf eine Picknickdecke unter die schattige Markise einer opulent beblätterten Baumkrone.

 

Und warum eigentlich auch nicht?

 

Kaum etwas macht mehr Spaß und Freude, als sich mit leckeren, eigens hergestellten Delikatessen und einer edlen Flasche Wein oder auch Schampus bei entspannter, ausgelassener und fröhlicher Stimmung zu einem Klassik Event der Open Air Superlative einladen zu lassen. So zumindest war es jüngst beim Klassik Open Air am Maschteich in Hannover.

 

30.000 schau-und zuhörerlustige Menschen konnten eine „Oper für Alle“ genießen, die völlig kostenfrei lediglich danach verlangte, sich selbst und seine Entourage bestehend aus Freunden, Familienmitgliedern und allerlei schmackhaften Völlereien mitzubringen.

 

Wer kann da schon widerstehen oder überhaupt Nein zu so einem fantastischen Angebot sagen?

 

Oper mal ganz umsonst, mal ganz anders und dann noch in einem Ambiente, das so attraktiv ist, dass man sich als Opernlaie gerne die zweistündige Arienberieselung antut, zumal für die Stärkung in den Schlappmachphasen bestens gesorgt zu sein scheint.

 

Aber mal ganz ehrlich: Der Zauber eines Open Air Events liegt doch augenscheinlich auf der Hand.

 

©Florian Arp / NDR / Klassik Open Air Hannover 2022

Nirgendwo anders sind die Menschen in so guter Stimmung wie eben unter freiem Himmel, dort an jenen lauschigen Schauplätzen, wo nichts unter Zwang passiert, sich niemand bedrängt, beobachtet und sozial gemarkert fühlen muss, weil er sich vielleicht nicht gerade zu dem allwissentlichen Operngänger zählen kann.

 

Kommen dann noch Speis und Trank mit ins Spiel, lebt der Mensch in schwelgerischer Genusskultur plötzlich auf und beginnt manches Mal sogar unbewusst seinen bis dato unentdeckten Kulturgenuss erstmals zu entdecken.

 

Viel zu leicht wird es einem auf so einer musikalischen „Gartenparty“ auch gemacht, denn Genuss bei Wein, Weib und Gesang bringt Menschen zusammen, lässt Geselligkeit aufleben und das soziale Miteinander gleich noch dazu.

 

Auf einmal trifft man Gleichgesinnte, auch wenn die Musik einen in erster Instanz gar nicht so sehr verbindet. Man schwadroniert über das Leben, die herrlichen Sommertage, die dringlichst herbeigesehnten Urlaube an ferne Orte und lässt es sich auch nicht nehmen, Lobeshymnen auf das romantische Ambiente des Veranstaltungsortes zu singen, auch wenn das Singen mehr einem sprachlichen Lob auf tonal höchstem Niveau entspricht.

 

Wild, frech und frei! Ein bisschen außer Rand und Band sind sie zuweilen schon, die Besucher eines klassischen Open Air Konzerts. Und das liegt oftmals auch an den Umständen, unter denen sich so ein musikalisches Spektakel - manches Mal sogar unter blitz-und donnerartigen Bedingungen - zuträgt.

 

Noch am Nachmittag bei strahlend blauem Himmel und heiter Sonnenschein unterwegs, gestaltet sich der immer näher rückende konzertante Abend als eine ins Wasser fallende Regenlochpleite.

 

Wenn dann aber die Künstler auf der Bühne einen so magischen Sternenstaub auf ihr Publikum streuen, dass sich das nasse Elend innerlich wohlig warm anfühlt, Spannung, Unterhaltung, Komik und Spaß an der Musik, allen Brass und die scheinbar unumkehrbare Schlechtwetterlaune im Nu vertreiben, dann bleibt dem Zuhörer so ein erinnerungswürdiges Ereignis bis in alle Ewigkeit ins Gedächtnis gebrannt.

 

Selten kann man solche Erlebnisse, die unter freiem Himmel den Mächten der Naturgewalten ausgesetzt sind, in einem Konzerthaus potenzieren.

 

Meistens erinnert man sich ausschließlich an einzigartige Waldbühnenkonzerte, Arena-di-Verona-Nächte, Prater-Picknick-Freuden oder Theater-im-Park-Wienereien zurück, weil sie nun mal ein großes Gesamterlebnis bilden, dass alle Sinneseindrücke und Genüsse einbezieht, die ein geschlossener, beengter Raum niemals bieten kann.

 

Und selbst die musikalische Erfahrung, die man von einem Klassik Open Air mit nach Hause nimmt, kann kein Opernhaus so schnell, so eindrücklich und so emotional geballt weder an den Mann noch an die Frau bringen.

 

©Florian Arp / NDR / Klassik Open Air Hannover 2022

In einer grillenzirpenden Sommernacht, in der die romantisch gesättigte Laune nur so in der Luft liegt, erleben sich Arien meistens von ihrer ästhetisch anmutigsten, ehrlichsten und vielleicht sogar authentischsten Seite.

 

Nun mag das natürlich auch daran liegen, dass sich bei konzertanten Sommernachtsträumen gefälliges und wohlbekanntes Arienrepertoire prickelnd wie schäumende Champagnerperlen angenehm aus dem Einheitsbrei eines Operndreiakters herauskristallisiert.

 

Doch vielmehr liegt es wohl daran, dass die Sängerinterpreten auf der Bühne gerade bei einem Open Air Konzert unbändige Lust verspüren, sich mit der überschwappenden Stimmung im Publikum und der unvergleichlich entrückt erscheinenden Sommernacht musikalisch so weit auf den Wellen ihrer eigenen Gefühle treiben zu lassen, dass die magnetische Anziehung zwischen Künstler und Publikum zum Zerreißen spürbar wird.

 

Es entsteht eine Verbindung, ja nahezu eine Bindung an den Abend und an den Künstler, die mehr Traum als Wirklichkeit und dennoch greifbar real ist.

 

Verrückt, was so ein Open Air mit einem machen kann. Und was es vor allem mit den Künstlern auf der Bühne macht, die so häufig in Frackmontur und aufgerüschten Abendkleidern steif, ungelenk und angestrengt wirken, wenn sie nur die Bühne eines Konzertsaales betreten.

 

Nicht so die Open Air Bühne: Auf der nämlich wird der normalerweise zum Schauspieler restringierte Sänger zum absoluten Vollblutkünstler in eigener Sache.

 

Während so mancher Rockinterpret auf einem Wacken-Open-Air die „Sau auf der Bühne“ rauslässt, so ähnlich, wenn auch nicht ganz so vergleichbar schrill, erlebt man Opernsänger in natura, ungekünstelt, ungeschminkt und einfach nur echt authentisch mit ganzem Herzen und vollem Einsatz bei ihrer Sache.

 

Musikalisch mündet die Vokalkunst des Sängerinterpreten in einem so intimen, persönlichen und nahbaren Hochgenuss, der sich niemals mit einem Opern- oder Konzertabend vergleichen lassen kann, obgleich wir irritierenderweise von ein und demselben Künstler sprechen - allerdings von zwei ganz unterschiedlichen Bühnen.

 

Und die machen tatsächlich einen gewaltigen Unterschied.

 

Wenn es aber nun darum geht, mehr Menschen für die klassische Musik begeistern und noch viel mehr Menschen anlocken zu wollen, als überhaupt in einem Opernhaus Platz nehmen können, dann ist es doch schlichtweg das klassische Open Air Event, das die ariose Musik vom bequemen Opernstuhl enthebt, sie auf die grundsolide Picknickdecke verankert und sie damit letztendlich einer großen Masse zugänglich macht.

 

©Florian Arp / NDR / Klassik Open Air Hannover 2022

Oder etwa nicht?

 

Mich jedenfalls hat es zutiefst erstaunt, Familien mit Kindern, Jugendliche, Studenten und auch das gesetztere ältere Publikum inmitten einer großen Picknick-Schar zu erleben, glücklich aussehend, fröhlich gestimmt, genussvoll speisend und musikalisch offen für das ganz große, oftmals noch unbekannte Abenteuer Oper.

 

Von so einem Wunschszenario können die Konzerthäuser momentan immer noch träumen, denn mit hoher Wahrscheinlichkeit wird der routinierte Open-Air-Gänger unbeirrt seiner Picknickdecke die Treue halten.

 

Denn das Gefühl einer unbeschwerten romantischen Sommernacht bei musikalisch gehörgängiger Untermalung und einem Wohlfühlambiente, das seinesgleichen in keinem Opernhaus der Welt finden wird, geschweige denn in der entsprechenden "Natur- beziehungsweise Monumentalkulisse", ist und bleibt unbeschreiblich und einfach einmalig.

 

Vielleicht aber wird die Hemmschwelle, sich doch irgendwann in einen der erlauchten Musentempel zu wagen, deutlich geringer, wenn das Open Air Erlebnis einen so bleibenden Eindruck hinterlässt, dass manch ein Opernneuling auf der Stelle mit dem Virus der klassischen Musik infiziert wird.

 

Hoffen wir das Beste und auf noch viele großartige, sensationelle Klassik Open Airs, die ganz sicher dafür sorgen werden, dass die schönste aller musikalischen Künste allgemein größere Akzeptanz erfährt und sich so allmählich vom Staub aller elitären Zwänge befreien kann.


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